Wolfgang Kienzler hat eine nette Miszelle "Kuinzig -- Heideggers Umgang mit einem Wort" im neuen Heft der AZP 33.2 (2008) (S. 191-194) veröffentlicht. Das Wort ist in Heideggers Text Der Feldweg, nach Heidegger, der Name für einen Zustand "heiteren Wissens".
Kienzler hat nun sich die Mühe gemacht zu klären, a) dass es das Wort tatsächlich gibt, b) was es bedeutet, und c) diese Erkenntnis zur Erhellung der Heideggerschen wortschöpferischen Tätigkeit herangezogen. Ich fasse ihn zusammen: "Kuinzig" wurde in Messkirch gebraucht und ist im Schwäbischen Wörterbuch von H. Fischer (Bd. 4 Tübingen 1914) nachgewiesen. Etymologisch wird es im Wörterbuch von "keinnützig" gleich "nutzlos" oder "verdorben" abgeleitet. Die Hauptbedeutung ist negativ. Allerdings kann es auch mit positivem Beigeschmack im Sinne von "neckisch" oder "mutwillig" gebraucht werden; diesen Gebrauch nennt Kienzler ironisch.
Man sehe hier also, so Kienzler, wie Heidegger ein Wort, das gut klingt, ziemlich fern seiner gewöhnlichen Bedeutung einführt und verwendet. §Methodisch könnte man dies auch so aufassen: Die für Heidegger brauchbaren Wörter wie 'kuinzig' müssen gut klingen (und aussehen), aber ansonsten spielt ihre tatsächliche Gebrauchsweise und sprachliche Bedeutung kaum eine Rolle, da Heidegger die Deutung des Wortes entsprechend seinen eigenen Absichten (und damit von außen nicht kontrollierbar, wenn auch im nachhinein biszu einem gewissen Grad nachvollziehbar) weiterentwickelt". (S. 192) Man müsse die Worte daher als "neue Zeichen" auffassen, meint Kienzler.
Denkt man dies weiter, müsste man Heidegger Irreführung vorwerfen: Wenn man die Form eines alten Zeichens nimmt, um sie mit einer neuen Bedeutung zu versehen, dann legt man seinen Lesern natürlich nahe, die alte Bedeutung in die Interpretation des Zeichens mit einzubeziehen. Kuinzig ist nur ein gutes Beispiel für diese Praxis, weil es als Dialektwort wenigen bekannt ist und es daher den Dialektunkundigen nicht auffällt, dass die alte Bedeutung mit Heideggers Definition nicht viel zu tun hat.
31 Juli 2008
25 Juli 2008
Gibt es ein „philosophisches Problem der Wahrheit“ in der bibliothekarischen Reflexion?
Im Heft 78 (2008) 1 des Library Quartly haben Robert V. Labaree und Ross Scimeca dies bejaht: The philosophical problem of truth in librarianship. (S. 43-70) Ui, ein philosophisches und bibliothekarisches Thema! Ich hatte angenommen, dass es über die professionelle Ethik hinaus eigentlich nicht viel zu erforschen gibt. Kann doch nirgendwo besser aufgehoben sein als hier!
Im Abstract heißt es, dass die Autoren ein „framework“ für die Frage nach der Wahrheit im Bibliothekswesen („librarianship“) entwickeln wollen. Dazu prüfen die Autoren Wahrheitskonzepte, die gegenwärtig in der (bibliothekarischen) Fachliteratur diskutiert werden, wobei sich herausstellt, dass da noch nicht allzu viel drüber nachgedacht wurde. Erstaunlich! *kopfschüttel* Daher mangelt es an Klarheit über die Beziehung zwischen Wahrheitstheorien und der praktischen Bibliotheksarbeit! Anschließend stellen die Autoren drei philosophische Wahrheitskonzepte vor, um schließlich ein viertes zu entwickeln, dass sich an einer „frühen Version des Historizismus“ orientiert. Das eröffne dann den theoretischen Rahmen für ein besseres Verständnis der „objektiven bibliothekarischen Praxis“, die schließlich nur im kontextualisierten Prozess der historischen Entwicklung gesehen werden dürfe.
Forschungsstand?
Klingt kompliziert? Ich bin nach diesem Absatz neugierig, wo denn jetzt tatsächlich in der bibliothekarischen Arbeit -- denn es geht den Kollegen um die Praxis -- ein besseres, philosophisch fundiertes Verständnis von Wahrheit gebraucht wird. Darauf muss man dann noch ein bisschen warten; zunächst fassen Labaree und Scimeca den „Forschungsstand“ zusammen. Darauf geh ich jetzt nicht ein, nur zwei markante Beispiele. Ach ja, zum Forschungsstand gehört auch Floridis Werk, darauf bin ich schon mal eingegangen. Hier die beiden andern.
1. „King and Rubin and Gary P. Radford“ betrachten Wahrheit, zusammen mit Gerechtigkeit und Schönheit, als eines von drei zusammenhängenden fundamentalen Idealen, die als Grundlage dienen für „librarianship in general and reference services in particular“. Folgt: Wahrheit hat was mit Bibliotheken zu tun, weil die Bibliotheksbenutzer, die in Bibliotheken forschen, auf der Suche nach ihr sind. Wirklich!
2. „Truthfully transcribing how a document represents itself is necessary for the identification and communicaton of bibliographic information“ zitieren die Autoren Elaine Svenonious. Erschließung ist demnach die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, wenn’s geht! Philosophische Dimension?
Wozu brauchen Labaree und Scimeca Philosophie?
Die Autoren bringen 7 Gründe.
1. Philosophie ist nötig, damit Bibliothekare sich gegen philosophische Kritik ihrer Tätigkeit und ihres Berufs verteidigen können. Hhmja. Ist mir neu, dass es sich dabei um ein Problem handelt! Aber man könnte natürlich auf die Idee kommen, so zu argumentieren: nach Foucault ist der Autor tot, also kann der auch nicht mehr im Katalogisat die Haupteintragung kriegen. Könnte man. :-)
2. Philosophie bietet eine Grundlage, ethische Entscheidungen zu treffen. Ja, schon. Aber das gilt ja auch für den Alltag jedes Menschen. Natürlich schadet ein bisschen Reflexion nicht, aber muss man dafür Plato gelesen haben?
3. Philosophie fungiert als Mittel, um ein besseres Selbstverständnis des Berufs zu erreichen. Liebe Bibliothekare ohne philosophische Ahnung: Euer Selbstverständnis könnte besser sein!
4. = 3., nur mit praktischem Aspekt.
5. Philosophie verbessert die Methodologie. Weil Philosophen nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Analyse beherrschen (und alle anderen anscheinend nicht?).
6. Philosophie führt zu kritischem Denken und zum Hinterfragen erkenntnistheoretischer und ontologischer (!) Basisannahmen. Ja, schon möglich, aber wozu braucht das ein Bibliothekar?
7. Philosophie bringt Klarheit in verwendete Konzepte. Hier verweisen die Autoren auf Michael Dummetts The logical basis of metaphysics, und Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, also hammerharte Philosophen, die allerdings bisher nicht darüber nachgedacht haben, was z.B. die ontologischen Dimensionen eines Buches sind, oder über das ontologische Modell von FRBR.
Klingt für mich, abgesehen vom Punkt 2 (Ethik) alles nach „Critical thinking“, was Grundlage jeden wissenschaftlichen Arbeitens ist und in Proseminaren gelehrt wird.
Was Larabee und Scimeca selbst denken: Korrespondenztheorie?
Naja, vielleicht bringt ja Larabees und Scimecas eigener Ansatz etwas Interessanteres und genuin philosophisches. Die fangen allerdings erst auf S. 57 damit an, und zwar indem sie bekannte philosophische Wahrheitstheorien auf die bibliothekarische Arbeit anwenden. Korrespondenztheorie, Kohärenztheorie und pragmatische Wahrheitstheorie sind ihre Kandidaten. Tatsächlich führen sie als eine Schwierigkeit der Korrespondenztheorie an, dass Sätze aus fiktionalen Texten keinem Sachverhalt in der Wirklichkeit entsprechen. Das ist Kinderkram!
Die zweite Schwierigkeit sei, dass postmoderne Denker gezeigt hätten, dass die Korrespondenztheorie ein westliches Verständnis von objektiver Wahrheit voraussetze. Die Aufgabe einer Bibliothek sei es, jegliche Information zu bewahren und Zugang zu ihr zu gewähren, unabhängig von ihrer objektiven Wahrheit. Sie kann also kein Konzept objektiver Wahrheit brauchen. -- Tja, der Gedankengang leuchtet mir nicht ein, schon darum nicht, weil wir bei der Erwerbung nicht prüfen, ob das, was in einem Buch steht, auch wahr ist. Und den informationellen Wert eines Buches prüft man ohnehin eher selten danach, ob das, was drin steht, mit den Tatsachen der Wirklichkeit „übereinstimmt“. Für die Wahrheit von Büchern ist die Korrespondenztheorie sozusagen unterkomplex, daher wirkt es auf mich lächerlich, sie überhaupt dafür in Betracht zu ziehen.
Kohärenztheorie?
Die Ausführungen zur Kohärenztheorie sind noch schwächer. Wieder geht es um den Inhalt bzw. die Wahrheit der Bücher. Die Autoren definieren die Kohärenztheorie so, dass eine Proposition dann und nur dann wahr sei, wenn sie keiner bereits als wahr akzeptierten Proposition widerspreche. Das ist natürlich grober Unfug in dieser naiven Formulierung. Nehmen wir das Beispiel, dass ich nicht weiß, wo meine Kinder sind, wenn ich nach Hause komme. Meine Nachbarin sagt: oh, die sind zum Kindergarten. In dem Moment ruft meine Frau an und sagt: wir sind alle zum Arzt gefahren. Jetzt habe ich zwei Propositionen (1. Kinder sind beim Kindergarten, 2. Kinder sind beim Arzt), die beide völlig im Einklang sind mit meinem übrigen Weltwissen, die ich also beide für wahr halten müsste bzw. ich müsste mich für eine entscheiden, die dann die andere unwahr machte. Labaree und Scimeca meinen natürlich nicht solche basalen Vorgänge, sondern sie denken an vorgestellte Theorien in Büchern (Freud, Galilei, die üblichen Verdächtigen) und sehen wieder die Bibliothek als Hort der Informationsfreiheit. Ja, richtig und gut, aber das hat doch nix mit der Kohärenztheorie zu tun!
Pragmatische Wahrheitstheorie?
Wahrheit ist das, was funktioniert, könnte man das zusammenfassen (übersimplifizierend, wie die Autoren wissen). Dagegen haben die Autoren erstmal keinen Einwand, meinen sogar, „pragmatism is the philosophical foundation of not only our profession but of all the social science that has emerged since the end of the nineteenth century“ (S. 61).
Labaree und Scimeca meinen, dass Bibliothekare schon deswegen mit Wahrheit zu tun hätten, weil jedes der Bücher in der Bibliothek auf einer der drei vorgestellte Theorien basiere: die Naturwissenschaften würden der Korrespondenztheorie folgen, die Kohärenztheorie regiere Logik und Mathematik, und sogar Romane hätten so etwas wie eine Wahrheit ihres eigenen Universums. Bibliothekare sollten aber nicht darüber entscheiden, sondern die Vielfalt der Wahrheitsansprüche einfach weitergeben, und dabei hilft ihnen eine historistische Konzeption von Wahrheit, dass eben das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer bestimmten Person für wahr gehalten wird, am besten durch die Zurhilfenahme historischer Faktoren erklärt werden kann (hinzu kommen natürlich weitere). Den Ursprung dieser Einsicht schreiben sie Johann Gottfried Herder zu. Das ist die im Abstract angekündigte historizistische Konzeption. An dieser Stelle bin ich dann auch beinahe mit der Banalität des Aufsatzes wieder versöhnt, weil’s einfach nett ist, einen Namen aus Good Ol’ Europe da zu lesen, statt mit den Erzamerikanern Dewey und James zu enden. Trotzdem finde ich es extrem enttäuschend, dass der ganze Aufsatz nicht wirklich ein „philosophical problem of truth in librarianship“ behandelt, sondern eigentlich nur „problem of truth in texts“ und wie die Texte sich zueinander verhalten. Anders ausgedrückt: der Anspruch ist hoch, das theoretische Instrumentarium gewichtig, das Resultat völlig banal.
Fazit
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese beiden amerikanischen Bibliothekare sich mit der Verwendung des Wortes Philosophie schwer tun. Sie nennen alles mögliche so, und der Aufsatz führt in seinem Forschungsüberblick daher auch ernsthaft Positionen an, die kaum des Nachdenkens wert sind (unter philosophischem Blickwinkel). Man sieht diese breite Verwendung des Worts ja auch in der DDC. Dabei ist dort nicht mehr gemeint, als wenn Jogi Löw im kicker-Interview feststellt, dass das wichtigste sei „eine Philosophie“. Das heißt nicht mehr als: ein Konzept. Also einfach etwas Abstraktes als Grundlage für das konkrete Handeln.
Im Abstract heißt es, dass die Autoren ein „framework“ für die Frage nach der Wahrheit im Bibliothekswesen („librarianship“) entwickeln wollen. Dazu prüfen die Autoren Wahrheitskonzepte, die gegenwärtig in der (bibliothekarischen) Fachliteratur diskutiert werden, wobei sich herausstellt, dass da noch nicht allzu viel drüber nachgedacht wurde. Erstaunlich! *kopfschüttel* Daher mangelt es an Klarheit über die Beziehung zwischen Wahrheitstheorien und der praktischen Bibliotheksarbeit! Anschließend stellen die Autoren drei philosophische Wahrheitskonzepte vor, um schließlich ein viertes zu entwickeln, dass sich an einer „frühen Version des Historizismus“ orientiert. Das eröffne dann den theoretischen Rahmen für ein besseres Verständnis der „objektiven bibliothekarischen Praxis“, die schließlich nur im kontextualisierten Prozess der historischen Entwicklung gesehen werden dürfe.
Forschungsstand?
Klingt kompliziert? Ich bin nach diesem Absatz neugierig, wo denn jetzt tatsächlich in der bibliothekarischen Arbeit -- denn es geht den Kollegen um die Praxis -- ein besseres, philosophisch fundiertes Verständnis von Wahrheit gebraucht wird. Darauf muss man dann noch ein bisschen warten; zunächst fassen Labaree und Scimeca den „Forschungsstand“ zusammen. Darauf geh ich jetzt nicht ein, nur zwei markante Beispiele. Ach ja, zum Forschungsstand gehört auch Floridis Werk, darauf bin ich schon mal eingegangen. Hier die beiden andern.
1. „King and Rubin and Gary P. Radford“ betrachten Wahrheit, zusammen mit Gerechtigkeit und Schönheit, als eines von drei zusammenhängenden fundamentalen Idealen, die als Grundlage dienen für „librarianship in general and reference services in particular“. Folgt: Wahrheit hat was mit Bibliotheken zu tun, weil die Bibliotheksbenutzer, die in Bibliotheken forschen, auf der Suche nach ihr sind. Wirklich!
2. „Truthfully transcribing how a document represents itself is necessary for the identification and communicaton of bibliographic information“ zitieren die Autoren Elaine Svenonious. Erschließung ist demnach die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, wenn’s geht! Philosophische Dimension?
Wozu brauchen Labaree und Scimeca Philosophie?
Die Autoren bringen 7 Gründe.
1. Philosophie ist nötig, damit Bibliothekare sich gegen philosophische Kritik ihrer Tätigkeit und ihres Berufs verteidigen können. Hhmja. Ist mir neu, dass es sich dabei um ein Problem handelt! Aber man könnte natürlich auf die Idee kommen, so zu argumentieren: nach Foucault ist der Autor tot, also kann der auch nicht mehr im Katalogisat die Haupteintragung kriegen. Könnte man. :-)
2. Philosophie bietet eine Grundlage, ethische Entscheidungen zu treffen. Ja, schon. Aber das gilt ja auch für den Alltag jedes Menschen. Natürlich schadet ein bisschen Reflexion nicht, aber muss man dafür Plato gelesen haben?
3. Philosophie fungiert als Mittel, um ein besseres Selbstverständnis des Berufs zu erreichen. Liebe Bibliothekare ohne philosophische Ahnung: Euer Selbstverständnis könnte besser sein!
4. = 3., nur mit praktischem Aspekt.
5. Philosophie verbessert die Methodologie. Weil Philosophen nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Analyse beherrschen (und alle anderen anscheinend nicht?).
6. Philosophie führt zu kritischem Denken und zum Hinterfragen erkenntnistheoretischer und ontologischer (!) Basisannahmen. Ja, schon möglich, aber wozu braucht das ein Bibliothekar?
7. Philosophie bringt Klarheit in verwendete Konzepte. Hier verweisen die Autoren auf Michael Dummetts The logical basis of metaphysics, und Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, also hammerharte Philosophen, die allerdings bisher nicht darüber nachgedacht haben, was z.B. die ontologischen Dimensionen eines Buches sind, oder über das ontologische Modell von FRBR.
Klingt für mich, abgesehen vom Punkt 2 (Ethik) alles nach „Critical thinking“, was Grundlage jeden wissenschaftlichen Arbeitens ist und in Proseminaren gelehrt wird.
Was Larabee und Scimeca selbst denken: Korrespondenztheorie?
Naja, vielleicht bringt ja Larabees und Scimecas eigener Ansatz etwas Interessanteres und genuin philosophisches. Die fangen allerdings erst auf S. 57 damit an, und zwar indem sie bekannte philosophische Wahrheitstheorien auf die bibliothekarische Arbeit anwenden. Korrespondenztheorie, Kohärenztheorie und pragmatische Wahrheitstheorie sind ihre Kandidaten. Tatsächlich führen sie als eine Schwierigkeit der Korrespondenztheorie an, dass Sätze aus fiktionalen Texten keinem Sachverhalt in der Wirklichkeit entsprechen. Das ist Kinderkram!
Die zweite Schwierigkeit sei, dass postmoderne Denker gezeigt hätten, dass die Korrespondenztheorie ein westliches Verständnis von objektiver Wahrheit voraussetze. Die Aufgabe einer Bibliothek sei es, jegliche Information zu bewahren und Zugang zu ihr zu gewähren, unabhängig von ihrer objektiven Wahrheit. Sie kann also kein Konzept objektiver Wahrheit brauchen. -- Tja, der Gedankengang leuchtet mir nicht ein, schon darum nicht, weil wir bei der Erwerbung nicht prüfen, ob das, was in einem Buch steht, auch wahr ist. Und den informationellen Wert eines Buches prüft man ohnehin eher selten danach, ob das, was drin steht, mit den Tatsachen der Wirklichkeit „übereinstimmt“. Für die Wahrheit von Büchern ist die Korrespondenztheorie sozusagen unterkomplex, daher wirkt es auf mich lächerlich, sie überhaupt dafür in Betracht zu ziehen.
Kohärenztheorie?
Die Ausführungen zur Kohärenztheorie sind noch schwächer. Wieder geht es um den Inhalt bzw. die Wahrheit der Bücher. Die Autoren definieren die Kohärenztheorie so, dass eine Proposition dann und nur dann wahr sei, wenn sie keiner bereits als wahr akzeptierten Proposition widerspreche. Das ist natürlich grober Unfug in dieser naiven Formulierung. Nehmen wir das Beispiel, dass ich nicht weiß, wo meine Kinder sind, wenn ich nach Hause komme. Meine Nachbarin sagt: oh, die sind zum Kindergarten. In dem Moment ruft meine Frau an und sagt: wir sind alle zum Arzt gefahren. Jetzt habe ich zwei Propositionen (1. Kinder sind beim Kindergarten, 2. Kinder sind beim Arzt), die beide völlig im Einklang sind mit meinem übrigen Weltwissen, die ich also beide für wahr halten müsste bzw. ich müsste mich für eine entscheiden, die dann die andere unwahr machte. Labaree und Scimeca meinen natürlich nicht solche basalen Vorgänge, sondern sie denken an vorgestellte Theorien in Büchern (Freud, Galilei, die üblichen Verdächtigen) und sehen wieder die Bibliothek als Hort der Informationsfreiheit. Ja, richtig und gut, aber das hat doch nix mit der Kohärenztheorie zu tun!
Pragmatische Wahrheitstheorie?
Wahrheit ist das, was funktioniert, könnte man das zusammenfassen (übersimplifizierend, wie die Autoren wissen). Dagegen haben die Autoren erstmal keinen Einwand, meinen sogar, „pragmatism is the philosophical foundation of not only our profession but of all the social science that has emerged since the end of the nineteenth century“ (S. 61).
Labaree und Scimeca meinen, dass Bibliothekare schon deswegen mit Wahrheit zu tun hätten, weil jedes der Bücher in der Bibliothek auf einer der drei vorgestellte Theorien basiere: die Naturwissenschaften würden der Korrespondenztheorie folgen, die Kohärenztheorie regiere Logik und Mathematik, und sogar Romane hätten so etwas wie eine Wahrheit ihres eigenen Universums. Bibliothekare sollten aber nicht darüber entscheiden, sondern die Vielfalt der Wahrheitsansprüche einfach weitergeben, und dabei hilft ihnen eine historistische Konzeption von Wahrheit, dass eben das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer bestimmten Person für wahr gehalten wird, am besten durch die Zurhilfenahme historischer Faktoren erklärt werden kann (hinzu kommen natürlich weitere). Den Ursprung dieser Einsicht schreiben sie Johann Gottfried Herder zu. Das ist die im Abstract angekündigte historizistische Konzeption. An dieser Stelle bin ich dann auch beinahe mit der Banalität des Aufsatzes wieder versöhnt, weil’s einfach nett ist, einen Namen aus Good Ol’ Europe da zu lesen, statt mit den Erzamerikanern Dewey und James zu enden. Trotzdem finde ich es extrem enttäuschend, dass der ganze Aufsatz nicht wirklich ein „philosophical problem of truth in librarianship“ behandelt, sondern eigentlich nur „problem of truth in texts“ und wie die Texte sich zueinander verhalten. Anders ausgedrückt: der Anspruch ist hoch, das theoretische Instrumentarium gewichtig, das Resultat völlig banal.
Fazit
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese beiden amerikanischen Bibliothekare sich mit der Verwendung des Wortes Philosophie schwer tun. Sie nennen alles mögliche so, und der Aufsatz führt in seinem Forschungsüberblick daher auch ernsthaft Positionen an, die kaum des Nachdenkens wert sind (unter philosophischem Blickwinkel). Man sieht diese breite Verwendung des Worts ja auch in der DDC. Dabei ist dort nicht mehr gemeint, als wenn Jogi Löw im kicker-Interview feststellt, dass das wichtigste sei „eine Philosophie“
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Bibliothek,
Wahrheit
21 Juli 2008
Das Mediendesaster findet nicht statt
Eine Antwort auf Uwe Jochums in BuB 60 (2008) 3, 216-219 vorgetragene Polemik "Das Mediendesaster". Jochums Untertitel: "Wie der Computer das Buch verdrängt und zum riskanten Totalmedium wird". Mein Aufsatz im jüngsten Heft von BuB erklärt, warum der Computer weder das Buch verdrängt noch ein "riskantes" Medium ist. Er zeigt außerdem, auf welch fragwürdigen Prämissen Jochums These vom Mediendesaster beruht.
Während mein Aufsatz hier online zu lesen ist (dank an die Redaktion für die Erlaubnis, das pdf ohne Verzögerung zu veröffentlichen!), ist Jochums Aufsatz (im Einklang mit seinen Thesen) bislang nur gedruckt zu lesen. Dafür ein ähnlich gelagerter von ihm mit dem Titel Endzeit in LIBREAS 5 hier.
Während mein Aufsatz hier online zu lesen ist (dank an die Redaktion für die Erlaubnis, das pdf ohne Verzögerung zu veröffentlichen!), ist Jochums Aufsatz (im Einklang mit seinen Thesen) bislang nur gedruckt zu lesen. Dafür ein ähnlich gelagerter von ihm mit dem Titel Endzeit in LIBREAS 5 hier.
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Bibliothek,
Digitalisierung,
Jochum,
Medientheorie
20 Juli 2008
Tabellen, Karten, Schemata
Der Verlag Zondervan hat mit Charts of philosophy and philosophers (von Craig Vincent Mitchell) ein Überblickswerk produziert, dass sich vor allem für die Lehre als hilfreich herausstellen könnte. Auf der Webseite des Verlags gibt es auch ein Beispiel vom Inhalt (pdf). Dem ist allerdings nicht recht zu entnehmen, dass neben Tabellen auch Einflusskarten für die Philosophiegeschichte enthalten sind, von der Antike über das Mittelalter bis zur 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. (Und da der Verfasser Theologe ist, auch solche über die Theologie, da, wo sie die Philosophie berührt.)
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Einführung,
Übersicht
19 Juli 2008
G E Moore auf deutsch
Der Ontos-Verlag bringt "Ausgewählte Schriften" von George Edward Moore auf deutsch. Und obwohl Moore ja ein recht bekannter und nicht ganz unwichtiger Philosoph ist, historisch betrachtet, habe ich immer gedacht, dass seine Ethik inzwischen obsolet ist, und seine erkenntnistheoretischen Position bloß als Folie für Wittgensteins Philosophie und als obskure Vorlage für antiskeptische Entwürfe interessant ist. Dafür hätte auch das originale Englisch genügt.( Moores Hauptwerk Principia ethica ist natürlich weiterhin bei Reclam auf deutsch zu haben.) Bei Ontos konzentriert man sich auf die frühen Schriften, so dass Klassiker wie "A defense of common sense" in der Sammlung nicht dabei sind.
Hier sind die Inhaltsverzeichnisse, die man auf der Verlagswebseite leider nicht findet:
Bd. 1 (pdf)
Bd. 2 (pdf)
Bd. 3 (pdf)
Hier sind die Inhaltsverzeichnisse, die man auf der Verlagswebseite leider nicht findet:
Bd. 1 (pdf)
Bd. 2 (pdf)
Bd. 3 (pdf)
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Moore
14 Juli 2008
Italienische Philosophie im Überblick
Jetzt gibt's das Standardwerk von Eugenio Garin auch auf Englisch: History of Italian Philosophy. Amsterdam : Rodopi, 2008.
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Geschichte,
Italien
09 Juli 2008
Was ist eine Singularität?
Bibliothekarisches Thema: Sacherschließung. Vor mir liegt das Buch von Francesco Vitale: Spettografie : Jacques Derrida ; singolarità e scrittura. - Genova : il melangolo, 2008. Sieht man in's Inhaltsverzeichnis, stellt man fest, dass der Begriff "Singularität" für das Buch wirklich wichtig ist, und da keimt der Verdacht, dass es sich um einen Derridaismus handelt. Hat die SWD ein entsprechendes Schlagwort? Ja, und zwar das folgende: "Singularität (HZ: Philosophie)". Denn, das versteht sich von selbst, der philosophische Gebrauch ist sicher verschieden von dem wohldefinierten der Astrophysik oder Mathematik. Leider enthält die SWD keine Definition, wie denn der philosophische Gebrauch ist. Die Quellenangabe dort weist auf das Historische Wörterbuch der Philosophie, und dort gibt es in der Tat einen Eintrag "singulär, Singularität". Da wird als erstes festgestellt, dass der Begriff deckungs- und bedeutungsgleich verwendet werde bis in die Gegenwart mit "Individualität". Was lehren die RSWK über Bedeutungsgleichheit? Dass man nicht ein neues Schlagwort ansetzen soll, wenn's schon ein passendes gibt. Also beruht das Schlagwort entweder auf einem Irrtum, oder die Ansetzer haben an die übrigen Verwendungen gedacht.
Dummerweise gibt das HWPhil, wie es seine Aufgabe ist, keine Definition, sondern zeichnet die Verwendung des Wortes durch die Philosophiegeschichte nach (allerdings nur den Strang, wo Singularität und Individualität unterschieden werden). Bis in die Neuzeit zwar, wobei aber die Neuzeit hier mit Cusanus anfängt und endet.
Zusammengefasst: Dem Schlagwortsatz kann man nicht entnehmen, was das Schlagwort bedeutet, und der Quelle für die Ansetzung kann man es auch nicht entnehmen. Was tun?
Hab die im BVB damit verknüpften Titel mir angesehen, sind ganz wenige. Hilft aber auch nicht weiter, da jeweils unterschiedlich. Hab dann trotzdem damit verschlagwortet.
Dummerweise gibt das HWPhil, wie es seine Aufgabe ist, keine Definition, sondern zeichnet die Verwendung des Wortes durch die Philosophiegeschichte nach (allerdings nur den Strang, wo Singularität und Individualität unterschieden werden). Bis in die Neuzeit zwar, wobei aber die Neuzeit hier mit Cusanus anfängt und endet.
Zusammengefasst: Dem Schlagwortsatz kann man nicht entnehmen, was das Schlagwort bedeutet, und der Quelle für die Ansetzung kann man es auch nicht entnehmen. Was tun?
Hab die im BVB damit verknüpften Titel mir angesehen, sind ganz wenige. Hilft aber auch nicht weiter, da jeweils unterschiedlich. Hab dann trotzdem damit verschlagwortet.
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Derrida,
SWD
01 Juli 2008
Niemand wartet gerne
Warum ist das so? Harold Schweizer geht in seinem Buch On waiting (London u.a. : Routledge, 2008) der Frage nach, aus einer im weiteren Sinne phänomenologischen Perspektive. Wie warten wir? Ist Warten eine Art von Erfahrung, z.B. eine Erfahrung der Zeit? Was für Zeit? Schweizer ist Literaturwissenschaftler, kein Philosoph, und daher stammen seine Beispiele aus der Literatur -- Warten auf Godot bräuchte ich wohl kaum zu erwähnen. Aber Literatur ist ja nur ein Mikroskop, das die Phänomene des Lebens überzeichnet. Das Buch ist gerade klein genug, um in den nächsten Wartephasen mal eben gelesen zu werden. Kann man lesen beim Warten, oder wartet, wer liest, schon nicht mehr?
Tags:
Warten
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