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29 November 2006

Bergson Plagiator?

Gerade liegt ein Buch vor mir, dass mir eine Kuriosität zu sein scheint: Darin bemüht sich ein "Dr. Albert Kann" aufzuzeigen, dass er "geistige Priorität" besitzt, was gewisse Ideen angeht, die er in seinen Büchern 1907 (Die Naturgeschichte der Moral und die Physik des Denkens : der Idealismus eines Materialisten) und 1914 (Ein philosophisches Gedankengang) veröffentlicht hat, die er aber bei Bergson 1932 wieder zu lesen meint. Besagtes Buch heißt Henri Bergson und meine Ideen : eine exakte Untersuchung der geistigen Priorität, erschienen im Selbstverlag in Wien 1935. Kann erläutert bei der Gegenüberstellung, dass er die deutsche Übersetzung von Bergsons Les deux sources de la morale et de la religion abgewartet habe, die erst 1933 erschienen war. Ich bin kein Bergson-Kenner und kann nicht bei einem kurzen Blick beurteilen, ob die Gegenüberstellungen 'Ideen' im Sinne von Philosophemen Bergsons betreffen, oder ob sie sich vielleicht einfach als ähnlich erklären lassen. Kann schreibt auf S. 152, "daß Bergson meine Werke gelesen, wurde bereits erhärtet". Unmittelbar darauf folgt diese Gegenüberstellung:

Die Naturgeschichte der Moral, Seite 158:
Nehmen wir heute die 'geahnte Idee' des Dualismus als solche und tragen wir sie hinein in die Uranfänge der empfindlichen, vererbenden Zelle. .... Denken wir uns nun zwei kleinste Teilchen mit gegensätzlichen Eigeneschaften -- und der Beginn ist dadurch gelegt, zur krausesten, kompliziertesten, späteren Form.


Dem stellt Kann Bergsons Zitat aus Die beiden Quellen der Moral, S. 294 + 293 gegenüber:
In der allgemeinen Entwicklung des Lebens jedoch führen die so auf dem Wege der Zweiteilung geschaffenen Tenden meistens zu verschiedenen Spezies. ... Wir fügen hinzu, daß dieses Gesetz nichts Rätselhaftes hat.


Für mich ist da keine besondere Nähe zu erkennen; und bei weiteren Beispielen geht es mir ähnlich. Sicher, da ist von ähnlichen Dingen die Rede. Aber solche Ähnlichkeiten finden sich sicher zu weiteren Texten anderer Autoren.
Leider taucht der Name Kanns in keiner mir ad hoc prüfbaren Quelle auf. Kann da vielleicht ein Bergson-Kenner etwas zu sagen? Ist diese Kann-Geschichte ein bekannter, längst abgearbeiteter Möchtegern-Skandal? Oder wäre das einen genaueren Blick der Bergson-Forschung noch wert?

27 November 2006

Keine radikal falsche Übersetzung?

Ian Hacking kenne ich vor allem als Autor eines Reclam-Bändchens zur Philosophie der Naturwissenchaften. Jetzt ist beim Züricher Chronos-Verlag eine Aufsatzsammlung namens Historische Ontologie erschienen, welche Gelegenheitsarbeiten des inzwischen in Frankreich lehrenden Philosophen versammelt und von Joachim Schulte ins Deutsche gebracht wurde. Gleich ins Auge fiel mir der Aufsatz "Radikale Fehlübersetzung - hat es das je gegeben?" In dem Aufsatz untersucht Hacking drei gern angeführte Beispiele für eine radikale Fehlübersetzung, und zeigt, dass sie wohl 'Moderne Legenden' sind. Das gräbt Quines zwar apriorisch vorgetragener, aber gern mit diesen Beispielen wiedergegebener Theorie von der Unbestimmtheit der Übersetzung das Wasser ab.
Hacking gibt einleitend zu, dass er die erste Geschichte auch schon erzählt hat:
Bei Cooks Entdeckungsreise hätten seine Matrosen ein junges Känguruh gefangen. Weil sie nicht wussten, was das war, befragten sie die Eingeborenen, deren Antwort "Känguruh" sie als Namen des Tiers interpretierten. Viele Jahre später habe man entdeckt, dass "Känguruh" aber keineswegs ein Tiername sei, sondern bedeute "Was habt Ihr gesagt?"

Hacking zeigt, dass diese und zwei weitere solcher Geschichten schlicht falsch sind. Die Fakten, die gegen die Känguruh-Geschichte sprechen, sind zwei: erstens ist von Cooks Reise dokumentiert, welche Wörter sie bei den Eingeborenen eingesammelt haben, und die Art und Weise, wie sie eingesammelt wurden. Die verzeichneten Wörter wurden sorgfältig geprüft. Und zweitens landete Cook in einer Gegend, in der ein bestimmter Dialekt gesprochen wurde. Ein späteres Wörterbuch dieses Dialekts enthält ein Wort, das dort gan(g)urru wiedergegeben ist -- und das bekannte Tier bezeichnet. Hackings zweites Beispiel ist noch ein wenig ausführlicher und gilt einer Geschichte, die auch in einem Gespräch zwischen Putnam und Quine wiedergegeben wird: dass der französische Naturforscher Sonnerat, als er Madagaskar besuchte, auf seine Frage nach einem Lemur "Was ist das?" die Antwort "Da läuft er" ("Indri") erhalten habe, was er für den Namen des Tieres hielt und was von da an der Name des Tieres geblieben sei. Hacking zeigt, dass diese Geschichte ganz falsch ist: Das fragliche Tier war längst bekannt und bei den französischen Einwanderern der Gegend auch gezähmt; kaum vorstellbar, dass man den Namen nicht gekannt habe. Hacking kann ein Wort im fraglichen Dialekt identifizieren, das infrage kommt; wie beim Känguruh beruht die Unfähigkeit späterer Forscher, das Wort zu verifizieren, wohl auf einer schlechten Umschrift der jeweiligen Aussprache.

25 November 2006

Wittgenstein als Schüler

In der Reihe Retrospektiven in Sachen Bildung erschien gerade die Studie Nr. 64: Hans Dirnböck: Die schriftliche und zeichnerische Matura von Ludwig Wittgenstein in den Fächern Mathematik und Darstellende Geometrie. 40 Seiten widmet Dirnböck den schriftlichen Schularbeiten LWs in den Fächern. Ich zitiere aus seiner "Kurzfassung" am Anfang:
In den Jahren 1903 bis 1906 war Ludwig Wittgenstein in Linz Schüler an der K.k. Staatsoberrealschule. ... LW hatte Probleme, sich zu konzentrieren und er hatte nicht genug Zeit, um die Fragen im Detail zu lösen, eine weit verbreitete Erscheinung an allen Schulen zu allen Zeiten. So finden wir in Mathematik eine "3", eine mittelmässige Note. In Darstellender Geometrie hat LW eine "5" bekommen, die schlechteste Note; die Benotung war aber nicht gerecht. Es wird festgestellt, dass LW die volle Einsicht in die Theorien hatte -- wie wir es wissen und wie wir es in seinem weiteren Leben finden.
Das ist ja schön, dass Wittgenstein die volle Einsicht hatte, als er 15 war. Der verteidigende Tonfall erstaunt ein bisschen: und es scheint mir noch andere Möglichkeiten zur Erklärung schlechter Noten zu geben als dass LW nicht genug Zeit gehabt hätte. Er könnte ja auch aus dem Fenster gesehen und ein bisschen geträumt haben, zum Beispiel. Verträgt sich auch noch besser mit den, was wir "in seinem weiteren Leben finden", oder nicht?

Dirnböck macht noch eine Literaturangabe: Mathias Iven: Wittgensteins Matura, in: Wittgenstein-Jahrbuch 2001/2002, S. 207-244, bei Lang 2003 erschienen (ISBN 3-631-50654-6). Iven behandle auch Wittgensteins Leistungen und Beurteilungen in den Fächern Englisch, Französisch und Deutsch.

23 November 2006

Mensch gegen Maschine

Kramnik, Schachweltmeister, spielt mal wieder gegen eine Software-Hardware-Kombination: das Programm heißt Deep Fritz 10, die Hardware ist mehr als dreimal so schnell wie beim letzten Vergleich vor vier Jahren. Spiegel online kündigt das "vielleicht letzte Match" zwischen Mensch und Maschine an. Wird bald die Maschine intelligenter als der Mensch? SpOn formuliert vorsichtiger, dass der Mensch "von seinen Rechenknechten überholt" würde. Man kann aber auch sagen, dass die Maschine das tut, wofür sie programmiert ist, und zwar womöglich bald besser als irgendein Mensch -- diese Art von Überholung passiert ständig und ist nicht beunruhigend. Scheint so, dass spielerische Kreativität (= eine menschliche Eigenschaft) von Rechenkraft (= was Maschinelles) abgelöst wird. Beunruhigt das?
Mich nicht. Ich meine, dass das genau dem Charakter von Schach entspricht: ein prinzipiell berechenbares, nach genau definierten Regeln ablaufendes Geschehen.
Was ich lustig finde, ist die Vermenschlichung der Schachmaschine. SpOn formuliert, das Programm zeige sich "genervt" bei dieser oder jener Spielentwicklung. Meine Güte: woran haben die das gesehen? Wird sich Deep Fritz über seinen Sieg freuen oder über seine Niederlage ärgern?

21 November 2006

Philosophie des Geistes im Grundkurs

Es mag ein paar ältere Leute geben, die beim Stichwort "Philosophie des Geistes" an Hegel denken. Die meisten werden aber zu Recht vermuten, dass sich dahinter etwas über Bewusstsein, Identität, Person undsoweiter verbirgt. Wie groß das Gebiet dahinter ist, war bislang den des Englischen mächtigen Lesern sehr viel leichter zu erahnen gewesen; im Grunde gab es mit Bieris Analytische Philosophie des Geistes nur eine einführende deutschsprachige Textsammlung. Thomas Metzinger, der rührige Mainzer Experte auf diesem Gebiet, hat nun einen Grundkurs als einführende Textsammlung zusammengestellt, dessen erster Band (von dreien) bei mentis soeben erschienen ist. Neben der didaktischen Aufbereitung: der Einteilung in Modulen, den einführenden Bemerkungen, den Philosophenbildern, dem "Serviceteil" mit Lektüreempfehlungen in Schwierigkeitsgraden (!) ist sicher die Stärke der Konzeption, eben einen deutschsprachigen Überblick zu bieten. So treffen wir im ersten Band neben guten Bekannten, die längst auf deutsch vorliegen, wie Peter Bieris "Was macht Bewusstsein zu einem Rätsel?", Daniel Dennetts "Qualia eliminieren" oder Frank Jacksons "Epiphänomenale Qualia" auch ein paar Texte, denen ich bisher nicht auf deutsch begegnet bin, so z.B. Paul Churchlands "Die Wiederentdeckung des Lichts". Dass es gewisse Überschneidungen mit dem früheren Metzingerschen Sammelband Bewusstsein gibt, liegt auf der Hand, gilt doch dieser erste Band des Grundkurses dem "Phänomenalen Bewusstsein". Band zwei gilt dem Leib-Seele-Problem, Band drei der Intentionalität.
Metzingers Grundkurs bietet, wie ich finde, eine verdienstvolle Zusammenfassung: und vom Verlag zu einem ordentlichen Preis angeboten: unter 30,- € pro Band.

Haydn oder Auster?

You are a soul in heaven waiting to be allocated a life on Earth. It is late Friday afternoon, and you watch anxiously as the supply of available lives dwindles. When your turn comes, the angel in charge offers you a choice between two lives, that of the composer Joseph Haydn and that of an oyster. Besides composing some wonderful music and influencing the evolution of the symphony, Haydn will meet with success and honour in his own lieftime, be cheerful and popular, travel, and gain much enjoyment from field sports. The oyster's life is far less exciting. Though this is rather a sophisticated oyster, its life will consist only of mild sensual pleasure, rather like that experienced by humans when floating very drunk in a warm bath. When you request the life of Haydn, the angel sighs, "I'll never get rid of this oyster life. It's been hanging around for ages. Look, I'll offer you a special deal. Haydn will die at the age of seventy-seven. But I'll make the oyster life als long as you like."


Die Geschichte stammt von Roger Crisp, aus seinem Buch Mill on Utilitarianism, das 1997 erschien (S. 24). Er erzählt sie noch einmal in seinem neuen Buch Reasons and the good (Oxford : Clarendon, 2006, S. 112). Sie soll die Frage illustrieren, ob alles, was für ein Gutes Leben zählt, eine 'enjoyable experience' sei. Mill selbst schrieb in seinem Buch Utilitarianism, es sei besser, ein unzufriedener Sokrates zu sein als ein glückliches Schwein; zur Begründung unterschied er zwischen höheren und niederen 'pleasures'. Das wirft eine Schwierigkeit auf, weil nicht klar ist, worin sich höhere von niederen unterscheiden. Liegt der Unterschied in der Menge an pleasure, dann wäre das kein prinzipieller Unterschied und damit nicht einzusehen, warum ein glückliches Schwein weniger gut sein sollte als ein unglücklicher Sokrates. Liegt's in der Qualität, dann fragt sich, ob diese unterschiedliche Qualität nicht für sich, ohne die Menge des damit verbundenen Pleasure in Betracht zu ziehen, etwas Gutes sein könnte (womit der Utilitarimsus als Wertmonismus verwässert wäre). Crisp meint, Mill einen Ausweg aus dem Dilemma weisen zu können: indem er etwas genauer hinsieht, wie man pleasure bzw. enjoyment auszubuchstabieren hätte. Das befriedigt dann auch die Intuition, dass die sinnlichen Genüsse einer Auster mit den geistigen von Haydn nicht mithalten können.

Menschheit gentechnisch veredeln?

Wieder einmal ein Blick auf ein Privatsystem der Philosophie bzw. Weltanschauung -- das Internet ist ja eine wunderbare Plattform für jeden Gedanken, und jeder findet seine Leser, irgendwann. Das 'Private Institut für Androiden und Superzivilisationsforschung' von Günter Einbeck beschäftigt sich mit der Frage, wie die Menschheit sich weiterentwickeln soll. Dass der Verfasser mit Sorge auf die Gegenwart blickt, wundert nicht. Dass er als Lösung eine von SF-Schriftstellern inspirierte Vision einer technisch veredelten Menschheit sieht, schon eher. Aber ich will hier gar nicht auf die wunderliche Mischung eingehen, sondern nur die Frage stellen, die für Einbeck schon beantwortet zu sein scheint. Angenommen, durch Gentechnik ließe sich 'das Böse' in der Menschheit ausrotten, dürften wir das dann (auch gegen den Willen der gentechnisch zu 'Veredelnden')?
Antwort: Kann man das überhaupt? Ist 'das Böse' ein genetisches Problem? Würde man mit der Entfernung 'des Bösen' womöglich den Menschen den freien Willen nehmen?
Und wie stehen wir zu den Wünschen anderer? Es ist klar, dass Einbecks Weltanschauung da keine Schwierigkeiten hat: wer böse ist, hat eben kein Recht auf seine genetische Integrität, oder: er würde selbst die Veränderung wollen, wenn er dazu klug genug wäre. Aber wir argumentieren doch nicht so?

20 November 2006

Naturwissenschaften und Moralischer Blick

In seinem neuen Buch Science and virtue (London : Ashgate, 2006) geht Louis Caruana dem Zusammenhang nach, der zwischen einer naturwissenschaftlich forschenden Tätigkeit bzw. einer 'wissenschaftlichen Mentalität' und moralischem Verhalten besteht. Dabei interessiert er sich in der Hauptsache nicht für die Frage, inwiefern der Materialismus der Naturwissenschaften Empathie und Humanität abtötet -- das wäre ja eine Lieblingskritik an der zweiten Kultur --, sondern mehr für die Frage, wie wissenschaftliche Tätigkeit bestimmte Tugenden fördert, die zum 'guten Leben' beitragen. Ihm geht es sowohl um das gute Leben des Forschers selbst als auch um das 'gute Leben' oder Blühen der Menschheit.
Caruanas Essay hat durchaus eine normative Dimension: er wünscht die Verbindung von Wissen (als dem Ziel der Wissenschaften) und Weisheit. Erst in der Suche nach Weisheit würden die Tugenden wissenschaftlicher Mentalität verantwortungsvoll gebraucht. Deutlicher gesagt: sieht Caruana durchaus die Mängel in einer ausschließlich 'wissenschaftlichen' Mentalität -- nur konzentriert er sich auf deren Stärken.

Die Tugend der Eifersucht

Der Isländer Kristján Kristjánsson schreibt in seinem Buch Justifying Emotions : Pride and Jealousy (London : Routledge u.a., 2002, 2006 als Paperback) von der Rolle, die Gefühle in der Moral spielen. Wie der Titel schon vermuten lässt, geht es ihm darum, die Gefühle gegen die Ansicht zu verteidigen, sie würden nur das moralische Urteil vernebeln und seien darum hinderlich. Kristjánsson hält hingegen Gefühle für essentiell, und das scheint mir zu stimmen: erstens um der Rolle willen, die Gefühle in der Handlungsmotivation spielen, zweitens um des Anteils der Gefühle am Charakter willen. Kristjánsson versucht außerdem zu zeigen, dass eine gefühlsmäßige Reaktion oft eine rationale Reaktion ist, dass Gefühle also die Wahrnehmung bestimmter Erfahrungen unterstützen und damit die Grundlage für moralische Entscheidungen verbessern. Vor diesem Hintergrund sind die ausführlichen Kapitel über Eifersucht und Stolz zu lesen und das Unterkapitel über "Jealousy as a virtue" (S. 161ff.).

18 November 2006

Verwirrungsfortschritt

I shall discuss what is, for me at least, an extraordinarily difficult and puzzling topic [...] I have discussed this topic on other occasions when, I regret to say, I have been even more confused than I am now. But I find that other philosophers are confused, too. I think I have made some progress. And so I fell justified, therefore, in taking up the topic once again.

Roderick Chisholm leitet so seinen Aufsatz ein über 'Problems of Identity', der 1971 in dem Sammelband Identity and Individuation, hg. von Milton K. Munitz, erschien. Sympathische Einleitung! (Das Problem, das Chisholm meint, ist das der Persistenz: der Identität durch die Zeit.)

14 November 2006

Gedanken beim Heben des Fingers

Richard Powers' erwähnt in seinem neuem Roman Das Echo der Erinnerung (The Echo Maker), in dem es unter anderem um den Zusammenhang zwischen Geist und Materie, Bewusstsein und Gehirn geht, die Experimente von B. Libet: eine der Hauptfiguren, der Neuropsychologe Gerald Weber, ruft sich diese in Erinnerung:
Willensfreiheit: Libet trug diese Vorstellung 1983 zu Grabe, sogar für das so genannte normale Gehirn. Er bat Testpersonen, mit einer Uhr, mit deren Hilfe sich zeitliche Differenzen von wenigen Mikrosekunden festhalten ließen, den exakten Zeitpunkt anzugeben, zu dem sie beschlossen, einen Finger zu heben. Durch Elektroden überwachten sie gleichtzeitig, ob ein Bereichtschaftspotential im Gehirn auf die bevorstehende Muskeltätigkeit hinwies. Dieses letztere Signal setzte in der Regel eine Drittelsekunde vor der Entscheidung zur Bewegung des Fingers ein. Folglich ist das wollende Wir nicht das Wir, für das wir es halten. Unser freier Wille ist eine klassische Komödienfigur: der Botenjunge, der glaubt, er sei der Chef.

So in Powers' Worten (S. 450). Die Darstellung stimmt ungefähr, wie man der ausführlicheren (und sozusagen wissenschaftlichen) Zusammenfassung von Stefan Straßmaier in seiner online als pdf verfügbaren Diss Willensfreiheit - oder kausale Determination von Handlungen?, S. 57ff., entnehmen kann. Ich habe mich schon seit ich das erste Mal von Libets Experimenten gelesen habe gefragt, wie es als Beleg für das taugen kann, wofür es in Anspruch genommen wird: es beweist doch nur, dass das Phänomen früher da ist, als es wahrgenommen wird. Wenn man die Wahrnehmung der Entscheidung, den Finger zu heben, mit dieser Entscheidung gleichsetzt, dann begeht man, scheint mir, einen offensichtlichen Fehlschluss. Der liegt nahe, weil er schön in eins geht mit der Idee, dass eine Entscheidung etwas Bewusstes ist und damit auch zuerst im Bewusstsein stattfinden muss, bevor sie sich auf die Materie (das Heben des Fingers) auswirkt. Mit solcher Interpretation tun sich natürlich eine Menge Fragen darüber auf, wie das Bewusstsein es schafft, auf die Materie zu wirken. Wenn man hingegen annimmt, dass Bewusstsein die eine Seite von etwas ist, dessen andere Seite das Gehirn ist, dann führt es weiter, ein gemeinsames Auftreten von materieller Veränderung (Bereitschaftspotential im Gehirn) und Bewusstseinszustand (Entscheidung) anzunehmen. Und die Selbstwahrnehmung ist eben langsamer als die der Messfühler.

[Update 14.4.2008] In Nature Neuroscience (DOI 10.1038/nn.2112) zeigen soeben Wissenschaftler ihr Experiment über den Zusammenhang von Entscheidungsfindung und deren Wahrnehmung an. Demnach soll in einigen Fällen die Entscheidung bis zu 10 Sekunden im Hirn vorbereitet worden (und damit für die Forscher wahrnehmbar bzw. vorhersagbar) gewesen sein, bevor die Testperson ihre Entscheidung selbst kannte. Ganz schön eindrucksvoll: 10 Sekunden. Allerdings ging es um das Drücken zweier Knöpfe, und die Trefferquote der Vorhersage lag bei 60%. Das ist natürlich ein bisschen besser als geraten...

[Update 16.5.2008] Habe gerade das Buch Hirnforschung und Menschenbild : Beiträge zur interdisziplinären Verständigung (Fribourg : Academic Press, 2007), hg. von Adrian Holderegger u.a., vor mir. Darin auch ein Aufsatz von Martine Nida-Rümelin (S. 91-120) Zur philosophischen Interpretation der Libet-Experimente, in dem die weitverbreitete Standarddeutung, die Willensfreiheit wäre am Ende, einer kritischen Analyse unterzogen wird.

06 November 2006

Mogeln Amerikaner mehr als Japaner? Deutsche mehr als Briten?

Eine Studie im Global Virtue Ethics Review 5 (2004), 4, 5-31, lief mir gerade über den Weg, in der fünf Autoren von der Roger Williams University in Bristol / Rhode Island der Frage nachgehen, wie sich das Mogelverhalten von College-Studenten in den USA und Japan unterscheidet. Eines der ERgebnisse: " ... that the moral behavior of US students is below that of their Japanese counterparts". Wie funktioniert die Studie? Die Studenten wurden befragt, ob sie schon gemogelt hatten und ob sie mogeln würden. Das erstere dient der Herstellung einer "Mogelhistorie" für den einzelnen, die Rückschlüsse darauf zulassen soll, ob, wer früher mogelt, das später eher auch tut. Wenig überraschend: dem ist so. Und übrigens in Japan häufiger als in den USA. Wie dem auch sei, die Autoren meinen, dass die "Dunkelziffer" der echten Mogler sogar noch höher sein müsse, weil es ja den bekannten Effekt des (sozial) erwünschten Verhaltens in der Öffentlichkeit gebe, der Leute daran hindern könne, über ihr tatsächliches Mogelverhalten Auskunft zu geben. Dass dieses Verhalten auch umgekehrt wirken könne: dass Leute behaupten, sie hätten gemogelt, weil sie denken, dass die Umfrager das gern hören möchten, haben Richard A. Bernadi et. alii allerdings nicht bedacht, aber vielleicht ist das auch nur ein laienhafter Einwand.

In diesem Zusammenhang ist vielleicht noch der Blick auf eine Spiegel online-Geschichte von heute interessant. Im British Journal of Criminology 46, S. 1011, berichtet Christian Stöcker, sind die Ergebnisse einer größeren vergleichenden Studie zusammengefasst, die das moralische Verhalten von Deutschen, Engländern und Walisern untersucht. Die Wissenschaftler haben auch eine Erklärung für das zunehmende unmoralische Verhalten: die Wirtschaft ist schuld. Könnte sein. Das Recht ist schuld. Könnte auch sein. Einfaches Beispiel: Die Steuererklärung zu machen ist dermaßen kompliziert, dass die meisten Privatleute davon überfordert sind. Es ist leichter, den Staat zu betrügen, als die Möglichkeiten auszuschöpfen, die der Staat vorgesehen hat. Also trägt wohl eine komplizierte Steuererklärung dazu bei, dass Leute nicht mehr im Bus Platz machen, wenn eine Mutter mit Kinderwagen einsteigen will...

05 November 2006

Wer ist der Vater der Amerikanischen Philosophie?

Na?
John Locke natürlich. Meint Morton White, im ersten Kapitel seiner Anthologie Documents in the history of American philosophy, die 1972 bei Oxford UP erschienen war. Locke "probably exerted more influence on early America thought than any other single man". Aber dann geht es im 18. Jahrhundert mit Jonathan Edwards und James Wilson los, Prediger der eine, Politiker der andere. Für das 19. Jahrhundert hält sich White weiterhin an die Idee "that philosophy in America is not merely philosophy written by Americans", und bringt Auszüge aus dem Werk Coleridges, bevor man George Ripley, Ralph Waldo Emerson und Theodore Parker lesen kann. Bis auf Emerson sind mir vor allem die Namen der Briten vertraut... Erst wenn, nach Herbert Spencer (wieder ein bekannter Engländer), John Fiske, Chauncey Wright, J. B. Stallo, endlich die Pragmatiker Peirce und James sowie der Idealist Royce genannt werden, schließlich Santayana und Dewey, kommen die mir bekannten Namen. Amerikanische Philosophie: eine unbekannte Geschichte.

[Update 6.11.] Gerade gesehen, dass White auch noch ein eigenes Buch zur Amerikanischen Philosophie veröffentlicht hat: Science and sentiment in America : philosophical thought from Jonathan Edwards to John Dewey (OUP 1972), sozusagen der Kommentar zum Reader.

02 November 2006

Parapsychologie und Philosophie

William James starb 1910. Etwa 1925 erschien ein Buch, das er post mortem diktiert haben soll: Margaret Underhill, Your infinite possibilities (London: Rider and Co, ca. 1925). Angesichts der Tatsache, dass James sich auch mit Parapsychologie beschäftigte, eine gar nicht so unplausible Geschichte...
Wie stehen Philosophie und Parapsychologie zueinander? Jan Ludwig gab 1978 einen Band bei Prometheus heraus, der die einschlägigen Aufsätze versammelte. Interessant finde ich besonders solche Fragen wie Does the concept of precognition make sense?, der sich der Psychologe C. W. K. Mundle widmet, oder C.D. Broads The philosophical implications of foreknowledge. An dessen Ende findet sich ein interessantes Gedankenexperiment, das der Frage gilt, ob Voraussicht nur dann möglich ist, wenn die Welt komplett determiniert ist: was wohl ein beliebtes Gegenargument war. Ich zitiere:
I can infer from events in the less remote past that Julius Caesar decided in the more remote past to cross the Rubicon. No one imagines for a moment that this fact shows that Caesar's decision to cross the Rubicon was completely predetermined at any previous date. Suppose now that an augur at Rome had foreseen those later events from which we infer that Caesar had decided at an earlier date to cross the Rubicon. Obviously, he could have drawn presicesly the same conclusion about Caesar's then future dedicison as we draw about his now past decision. And, if the possibility of our making this inference from these data does not require Caear's decision to be completely predetemined, why should the possibility of the augur's making the same inference from the same data require this?