heute: beim Digitalisieren.
Cokie G. Anderson: Ethical decision making for digital libraries. Oxford : Chandos, 2006. Die verlinkte Seite enhält auch ein Inhaltsverzeichnis. Das dritte und vierte Kapitel widmen sich dem Digitalisieren; insbesondere der Auswahl der digitalisierenswerten Bestände. Das Buch ist praktisch orientiert; so kommt es zu Sätzen wie: "The first and most important way to incorporate ethics into a digitisation policy is to have a written digitisation policy." Weil man vorm Schreiben stärker reflektiert. Allerdings wird hier viel "Ethik" genannt, was auch bereits durch andere Erwägungen abgedeckt ist; so meint Anderson, dass eine Institution eine moralische Verantwortung ("ethical responsibility") hätte zu prüfen, wie ein Digitalisierungsvorhaben in das "Mission statement" der Institution passt. Ich kann daran aber wenig moralisches erkennen; der verantwortliche (meist gleichbedeutend mit "wirtschaftliche") Umgang mit Ressourcen ist etwas, das einem der Träger mit auf den Weg gibt.
Auch die "moralischen" Überlegungen zur Auswahl von digitalisierenswerten Beständen erschöpfen sich in der Frage "Für wen ist das gut?" und das Abklappern der möglichen Antworten.
Auf den ersten Blick also ist das Buch ratsam für Leser, die den systematischen Zugang schätzen, weil es ihnen eine Basis für die eigene Reflexion gibt. Dabei beschäftigt es sich mit vielen Fragen rund um das Digitalisieren -- das "Moralische" im Titel ist als "praktische Vernunft" zu lesen.
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09 Juni 2009
15 April 2009
Gene sollte man nicht patentieren können
Die Überschrift müsste eigentlich lauten: "Gene kann man nicht patentieren". Das Problem ist, dass das Recht manchmal seltsame Wege nimmt. Aktueller Anlass: Beim Europäischen Patentamt liegt ein Patentantrag vor, gegen den heute die Antragsfrist zuende ging (hier der Bericht der Süddeutschen). Es gab mehr als 5.000 Einwendungen, und Hoffnung macht auch die Statistik, die ich eben im Radio hörte: Zwei Drittel der mit Einwendungen bedachten Anträge werden beschränkt oder kommen nicht durch.
Worum geht's? Eine Firma will ein Gentestverfahren patentieren lassen, das das Gen erkennt, mit dem Schweine dick werden. Und die damit verbundenen Auswahlmöglichkeiten als Schweinezuchtverfahren. Während das Europäische Patentamt die Folgen des Patents so bewertet, dass nur die Lizenzgebühren zahlen müssten, die das Auswahlverfahren der Firma (plus Chemietest) verwenden, befürchten Kritiker, dass schließlich alle, die überhaupt Schweine mit dieser Gensequenz züchten, zahlen müssten, also dass das Nutzungsrecht an den mit dem patentierten Verfahren erkannten Genen an die Firma überginge.
Ich denke, dass die Patentierung einer Generkennungstechnik kein Problem ist, aber die Patentierung eines Gens natürlich schon. Dabei ist für mich unerheblich, ob der Buchstabe des Patents dies aussagt oder nicht; wichtig ist, wie die Wirkung ist. Dummerweise kann man das als juristischer Laie kaum selbst beurteilen; nichtmal die Juristen sagen ja korrekt voraus, wie die Anwendung einer Rechtsnorm durch Gerichte ausfallen wird. Ob also die Demonstration heute unnötige Panikmache ist oder die letzte Möglichkeit, die Notbremse zu ziehen, weiß ich nicht. Aber in Situationen, in denen die Informationen zum Urteil nicht hinreichen, ist es wohl besser, der vorsichtigeren Einschätzung zu folgen!
Worum geht's? Eine Firma will ein Gentestverfahren patentieren lassen, das das Gen erkennt, mit dem Schweine dick werden. Und die damit verbundenen Auswahlmöglichkeiten als Schweinezuchtverfahren. Während das Europäische Patentamt die Folgen des Patents so bewertet, dass nur die Lizenzgebühren zahlen müssten, die das Auswahlverfahren der Firma (plus Chemietest) verwenden, befürchten Kritiker, dass schließlich alle, die überhaupt Schweine mit dieser Gensequenz züchten, zahlen müssten, also dass das Nutzungsrecht an den mit dem patentierten Verfahren erkannten Genen an die Firma überginge.
Ich denke, dass die Patentierung einer Generkennungstechnik kein Problem ist, aber die Patentierung eines Gens natürlich schon. Dabei ist für mich unerheblich, ob der Buchstabe des Patents dies aussagt oder nicht; wichtig ist, wie die Wirkung ist. Dummerweise kann man das als juristischer Laie kaum selbst beurteilen; nichtmal die Juristen sagen ja korrekt voraus, wie die Anwendung einer Rechtsnorm durch Gerichte ausfallen wird. Ob also die Demonstration heute unnötige Panikmache ist oder die letzte Möglichkeit, die Notbremse zu ziehen, weiß ich nicht. Aber in Situationen, in denen die Informationen zum Urteil nicht hinreichen, ist es wohl besser, der vorsichtigeren Einschätzung zu folgen!
16 Oktober 2008
Pflanzen, moralphilosophisch betrachtet
Sollte man Pflanzen als Subjekte in seine moralischen Überlegungen mit einbeziehen? Viele Auseinandersetzungen z.B. mit Umweltzerstörung haben den Menschen im Mittelpunkt und beziehen sich auf ihn. Die Argumentation läuft dann so: Wir sollten die Umwelt nicht zerstören, weil wir /unsere Kinder etc. dann zukünftig in einer zerstörten Umwelt leben müssen.
Bei Tieren hat sich inzwischen, scheint mir, nicht nur dank der unermüdlichen Tätigkeit von Tierrechtsaktivisten, die Ansicht durchgesetzt, dass sie an sich und als Selbstzweck moralische Faktoren sind. Aber wie ist das mit Pflanzen? Man möchte zunächst erst mal wissen, mit Thomas Nagel: How is it like to be a plant? Wenn wir z.B. Leidensfähigkeit als Ausgangspunkt moralischer Überlegungen nehmen, dann wird es schwierig mit Pflanzen, weil einerseits zwar sich Schaden und Zerstörung bei ihnen genau aufzeigen lassen, andererseits ein Leiden aber nicht. Zu sagen, dass eine Pflanze "leidet" oder Schmerzen hat, scheint mir Anthropologisierung in hohem Maße. Kommt man aus dieser Falle heraus?
In der Schweiz hat die "Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich" über das Thema nachgedacht und einen Bericht verfasst, hier als pdf. Sie gehen von der Betrachtung der Pflanzen um ihrer Selbst willen aus. Das ist mit großer Ernsthaftigkeit vorgetragen und in den 20 Seiten der Broschüre mit bunten Bildern attraktiv veröffentlicht. Da finden sich Zitate wie dieses aus den "Schlussfolgerungen":
Was ist ein vernünftiger Grund? Kind mit Stock schlägt Blume den "Kopf" ab, aus Spaß: vernünftiger Grund? Ist nicht überhaupt das Reden von einem Kopf eine unzulässige Anthropologisierung, weil der Begriff "Köpfen" ja vorgibt zu wissen, wie es ist, eine Pflanze zu sein?
Interessant an dem Bericht, dass er Mehrheits- und Minderheitsmeinung in der Kommission gleichermaßen festhält und weitergibt.
Bei Tieren hat sich inzwischen, scheint mir, nicht nur dank der unermüdlichen Tätigkeit von Tierrechtsaktivisten, die Ansicht durchgesetzt, dass sie an sich und als Selbstzweck moralische Faktoren sind. Aber wie ist das mit Pflanzen? Man möchte zunächst erst mal wissen, mit Thomas Nagel: How is it like to be a plant? Wenn wir z.B. Leidensfähigkeit als Ausgangspunkt moralischer Überlegungen nehmen, dann wird es schwierig mit Pflanzen, weil einerseits zwar sich Schaden und Zerstörung bei ihnen genau aufzeigen lassen, andererseits ein Leiden aber nicht. Zu sagen, dass eine Pflanze "leidet" oder Schmerzen hat, scheint mir Anthropologisierung in hohem Maße. Kommt man aus dieser Falle heraus?
In der Schweiz hat die "Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich" über das Thema nachgedacht und einen Bericht verfasst, hier als pdf. Sie gehen von der Betrachtung der Pflanzen um ihrer Selbst willen aus. Das ist mit großer Ernsthaftigkeit vorgetragen und in den 20 Seiten der Broschüre mit bunten Bildern attraktiv veröffentlicht. Da finden sich Zitate wie dieses aus den "Schlussfolgerungen":
Die Kommissionsmitglieder halten einen willkürlich schädigenden Umgang mit Pflanzen einstimmig für moralisch unzulässig. Zu einem solchen Umgang zählt z.B. das Köpfen von Wildblumen am Wegrand ohne vernünftigen Grund.
Was ist ein vernünftiger Grund? Kind mit Stock schlägt Blume den "Kopf" ab, aus Spaß: vernünftiger Grund? Ist nicht überhaupt das Reden von einem Kopf eine unzulässige Anthropologisierung, weil der Begriff "Köpfen" ja vorgibt zu wissen, wie es ist, eine Pflanze zu sein?
Interessant an dem Bericht, dass er Mehrheits- und Minderheitsmeinung in der Kommission gleichermaßen festhält und weitergibt.
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14 August 2008
Gehirn und Moral
Dass es einen Sitz des moralischen Empfindens im Gehirn gäbe, haben wohl die Theoretiker gedacht, seit bekannt ist, dass im Gehirn überhaupt etwas an Empfindungen sitzt. Was wann darüber gedacht wurde, erzählt Jan Verplaetse in Het morele brein : een geschiedenis over de plaats van de moraal in onze hersenen (Antwerpen : Garant, 2006). Habe gerade entdeckt, dass es zum Thema auch eine Webseite und ein Weblog gibt -- und beide auf englisch. Ah, und aus der Liste der Publikationen geht hervor, dass das Buch von Verplaetse wohl auch auf Englisch erscheint, bei Springer, 2008.
12 August 2008
Achte Auflage des "Lexikon der Ethik"
Höffes Lexikon habe ich selbst noch nie gebraucht. Aber nun liegt hier die 8. Auflage 2008, wieder erweitert und aktualisiert. Ich habe zum ersten Mal bemerkt, dass das Lexikon nicht nur von Höffe in Zusammenarbeit mit Forschner, Horn und Vossenkuhl herausgegeben, sondern auch geschrieben ist; d.h. diese 4 haben alle Inhalte besorgt. Ich teste ein solches Lexikon gern an ein paar Begriffen; bei der Ethik liegen mir "Supervenienz" und "Supererogation" nahe. Für Supererogation wird auf "Verdienstlichkeit" verwiesen und dort einigermaßen ausführlich erläutert; die Supervenienz findet im Lexikon nicht statt.
Es gibt leider -- aber das würde das Lexikon auch zu sehr aufblähen -- keine Personeneinträge; Ausnahmen sind adjektivierte Personennamen: z.B. die Kantische Ethik. Kurz nachgesehen: natürlich, in einem Höffe-Buch, auch die Aristotelische Ethik. Nützlich finde ich die Listen am Ende über "Quellen", d.h. klassische Werke der Ethik, Nachschlagewerke und "Sammelbände". Allerdings scheinen die Autoren von den Blackwell Philosophy Companions nicht allzuviel zu halten, denn diese generell recht nützlichen Bände erscheinen weder bei den "Nachschlagewerken" noch bei den Sammelbänden noch, z.B. Beim Blackwell Companion to christian ethics, bei den Literaturangaben zum Artikel Christliche Ethik.
Wer die Vorauflagen kennt oder besitzt: Höffe schreibt im Vorwort, was neu ist. Die 6. Auflage war von 2002, seitdem wurden Artikel überarbeitet und die Literaturangaben ergänzt sowie einige Verweisungen neu aufgenommen, um sich an die wandelnde Terminologie anzupassen bzw. um neue Inhalte in älteren Artikeln unterzubringen, z.B. das "Gefangenendilemma" im Artikel "Entscheidungstheorie". Ganz neue Einträge sind, unter anderen, "Angewandte Ethik", "Bürgertugenden", "Intergenerationelle Gerechtigkeit", "Unternehmensethik".
Es gibt leider -- aber das würde das Lexikon auch zu sehr aufblähen -- keine Personeneinträge; Ausnahmen sind adjektivierte Personennamen: z.B. die Kantische Ethik. Kurz nachgesehen: natürlich, in einem Höffe-Buch, auch die Aristotelische Ethik. Nützlich finde ich die Listen am Ende über "Quellen", d.h. klassische Werke der Ethik, Nachschlagewerke und "Sammelbände". Allerdings scheinen die Autoren von den Blackwell Philosophy Companions nicht allzuviel zu halten, denn diese generell recht nützlichen Bände erscheinen weder bei den "Nachschlagewerken" noch bei den Sammelbänden noch, z.B. Beim Blackwell Companion to christian ethics, bei den Literaturangaben zum Artikel Christliche Ethik.
Wer die Vorauflagen kennt oder besitzt: Höffe schreibt im Vorwort, was neu ist. Die 6. Auflage war von 2002, seitdem wurden Artikel überarbeitet und die Literaturangaben ergänzt sowie einige Verweisungen neu aufgenommen, um sich an die wandelnde Terminologie anzupassen bzw. um neue Inhalte in älteren Artikeln unterzubringen, z.B. das "Gefangenendilemma" im Artikel "Entscheidungstheorie". Ganz neue Einträge sind, unter anderen, "Angewandte Ethik", "Bürgertugenden", "Intergenerationelle Gerechtigkeit", "Unternehmensethik".
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Nachschlagen
21 Juni 2008
Die Moral der BRD
Gernot Böhme hat ein Buch zur Ethik leiblicher Existenz geschrieben, bei stw 2008 erschienen. Das ist für sich vermutlich nicht bemerkenswert, wäre da nicht das Kapitel "Zur Geschichte der Moral in der BRD", S. 22-38. Das zeichnet die Entwicklung der öffentlichen Auseinandersetzung mit Ethik und Moralvorstellungen nach. Viel Raum nimmt natürlich 1968 ein, aber Böhme blickt auch darüber hinaus auf die Entwicklung des Ethik-Unterrichts und vorher auf die Nachwirkungen der Nazizeit. Mich würde auch noch der Vergleich mit der DDR interessieren, aber das ist für so ein Unterkapitel wohl etwas viel verlangt...
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31 März 2008
Warum moralisch sein?
Kann man zum Thema noch was neues sagen? Nachdem Kurt Bayertz bei UTB einen Sammelband mit klassischen Positionen herausgegeben und selbst eine Monographie geschrieben hat, die bei Beck erschien, habe ich hier nichts mehr zum Thema erscheinen sehen. Das Dilemma der Frage ist das folgende: Jeder außermoralische Grund für das Moralischsein verweist auf die höhere Autorität anderer Werte (Religion ist die klassischste Variante); jeder moralische Grund für das Moralischsein setzt die Anerkennung der Moral voraus.
Die meisten derjenigen, die eine Antwort versuchen, probieren heute den ersten Weg, weil das Moralische nicht mehr die gleiche Selbstverständlichkeit besitzt wie noch vor 100 Jahren. Die zweitklassischste Position nach dem Verweis auf göttliche Gebote zur Begründung von moralischem Handeln ist der Eigennutz. Ich entsinne mich eines Seminars in Göttingen, bei dem Dietmar von der Pfordten als Seminarleiter die von ihm provokativ gedachte These vertrat, alles Handeln sei letztlich eigennützig, das sei psychologisch gar nicht anders möglich. Auch altruistisches Handeln sei eigennützig wegen dem Gefühl der Befriedigung, dass es dem Handelnden verschaffe. (Man denke sich Mutter Theresa im moralischen Orgasmus.)
Dass dabei der Begriff des Eigennutzes entweder inhaltsleer wird oder einer empirischen Überprüfung zugänglich (wie lässt sich denn das Gefühl der Befriedigung messen?), schien ihn nicht zu stören.
Jetzt ist gerade ein Buch erschienen, dass Paul Bloomfield herausgegeben hat: Morality and Self-Interest (Oxford : Oxford University Press, 2008). Anders als der Titel vermuten lässt, geht es in der Hälfte der Aufsätze um "Morality without self-interest". Mir scheint jedenfalls, dass dies die Kernfrage des Problems "Warum moralisch sein?" ist: wie man sich zum Eigennutz verhält.
Die meisten derjenigen, die eine Antwort versuchen, probieren heute den ersten Weg, weil das Moralische nicht mehr die gleiche Selbstverständlichkeit besitzt wie noch vor 100 Jahren. Die zweitklassischste Position nach dem Verweis auf göttliche Gebote zur Begründung von moralischem Handeln ist der Eigennutz. Ich entsinne mich eines Seminars in Göttingen, bei dem Dietmar von der Pfordten als Seminarleiter die von ihm provokativ gedachte These vertrat, alles Handeln sei letztlich eigennützig, das sei psychologisch gar nicht anders möglich. Auch altruistisches Handeln sei eigennützig wegen dem Gefühl der Befriedigung, dass es dem Handelnden verschaffe. (Man denke sich Mutter Theresa im moralischen Orgasmus.)
Dass dabei der Begriff des Eigennutzes entweder inhaltsleer wird oder einer empirischen Überprüfung zugänglich (wie lässt sich denn das Gefühl der Befriedigung messen?), schien ihn nicht zu stören.
Jetzt ist gerade ein Buch erschienen, dass Paul Bloomfield herausgegeben hat: Morality and Self-Interest (Oxford : Oxford University Press, 2008). Anders als der Titel vermuten lässt, geht es in der Hälfte der Aufsätze um "Morality without self-interest". Mir scheint jedenfalls, dass dies die Kernfrage des Problems "Warum moralisch sein?" ist: wie man sich zum Eigennutz verhält.
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Warum moralisch sein?
21 August 2007
Ethik als Gebrauchsanweisung
Man sollte einem Buch mehr als fünf Minuten widmen... Aber wenn der Autor schon Irrgang heißt...
Bernhard Irrgang lässt das Thema Technik nicht los. Darum hat er jetzt eine Hermeneutische Ethik (Titel) als "Pragmatisch-ethische Orientierung in technologischen Gesellschaften" (Untertitel) in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft veröffentlicht. Im Vorwort Einleitung schreibt er:
Was bedeutet das? Die sprachliche Gestaltung des ersten Satzes ist schon interessant. Sowohl die negative Färbung von "überbordend" als auch die der "immer" neuen Formen deutet auf ein Gefühl der Bedrohung: der Autor fürchtet, in der Technik unterzugehen. Er missbilligt, natürlich, das Cool-Sein. Hier wie andernorts steht nicht, was Irrgang damit meint, und ich kann das auch nicht erkennen, weil ich keinen rechten Zusammenhang sehe zwischen einem Habitus (wie "Coolsein") und einer "Grundform der Selbsterhaltung". Beachtenswert finde ich Irrgangs Zusammenziehung "humane Selbsterhaltung", welche auch so verstanden kann, dass nicht die Existenz, sondern das Humanum gefährdet ist. Das würde natürlich gut zum Bedrohungsgefühl passen. Dann bedeutet der ganze Satz: Technik bringt ihre Anhänger dazu, das Menschliche aufzugeben.
Der zweite Satz sagt, dass Ethik hilft: sie ist der wissenschaftliche Umgang mit den Folgen der Technik: dem Nichtwissen. (Für Philosophen ist Technik, die Nichtwissen sogar produziert, so dass es mehr davon gibt als vorher, eigentlich was Gutes: denn Nichtwissen ist ja der Ausgangspunkt der Selbsterkenntnis!)
Das Buch, schreibt Irrgang, "reflektiert weniger die Ethik, sondern die Anwendungsbedingungen und Einbettungsfunktionen ethischen Argumentierens und Entscheidens. Diese sind heute überwiegend technisch-ökonomischer Natur." Ach so. Die Anwendungsbedingungen sind technisch-ökonomischer Natur. Ich nehme an, dass es da auch eine Achse des Bösen zwischen Technik und Ökonomie gibt, dass technischer und ökonomischer Habitus sich ähnlich sind.
Vielleicht sollte ich mal umblättern, um zu sehen, was auf der nächsten Seite steht.
Bernhard Irrgang lässt das Thema Technik nicht los. Darum hat er jetzt eine Hermeneutische Ethik (Titel) als "Pragmatisch-ethische Orientierung in technologischen Gesellschaften" (Untertitel) in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft veröffentlicht. Im Vorwort Einleitung schreibt er:
Angesichts überbordender Angebote immer neuer Formen von Technik, die selbstverständlich jedermann haben muss, der "in" sein will, stellt sich die Frage, ob sich der allseits verbreitete Grundwert des Cool-Seins tatsächlich als eine Grundform der humanen Selbsterhaltung des Techniknutzers gegenüber modernern Technik erweisen kann. ... Technik produziert Unsicherheit und Nichtwissen. Der traditionelle Umgang mit Unsicherheit und Nichtwissen war wissenschaftlich. Und Ethik sollte, wie Philosophie, Wissenschaft sein.
Was bedeutet das? Die sprachliche Gestaltung des ersten Satzes ist schon interessant. Sowohl die negative Färbung von "überbordend" als auch die der "immer" neuen Formen deutet auf ein Gefühl der Bedrohung: der Autor fürchtet, in der Technik unterzugehen. Er missbilligt, natürlich, das Cool-Sein. Hier wie andernorts steht nicht, was Irrgang damit meint, und ich kann das auch nicht erkennen, weil ich keinen rechten Zusammenhang sehe zwischen einem Habitus (wie "Coolsein") und einer "Grundform der Selbsterhaltung". Beachtenswert finde ich Irrgangs Zusammenziehung "humane Selbsterhaltung", welche auch so verstanden kann, dass nicht die Existenz, sondern das Humanum gefährdet ist. Das würde natürlich gut zum Bedrohungsgefühl passen. Dann bedeutet der ganze Satz: Technik bringt ihre Anhänger dazu, das Menschliche aufzugeben.
Der zweite Satz sagt, dass Ethik hilft: sie ist der wissenschaftliche Umgang mit den Folgen der Technik: dem Nichtwissen. (Für Philosophen ist Technik, die Nichtwissen sogar produziert, so dass es mehr davon gibt als vorher, eigentlich was Gutes: denn Nichtwissen ist ja der Ausgangspunkt der Selbsterkenntnis!)
Das Buch, schreibt Irrgang, "reflektiert weniger die Ethik, sondern die Anwendungsbedingungen und Einbettungsfunktionen ethischen Argumentierens und Entscheidens. Diese sind heute überwiegend technisch-ökonomischer Natur." Ach so. Die Anwendungsbedingungen sind technisch-ökonomischer Natur. Ich nehme an, dass es da auch eine Achse des Bösen zwischen Technik und Ökonomie gibt, dass technischer und ökonomischer Habitus sich ähnlich sind.
Vielleicht sollte ich mal umblättern, um zu sehen, was auf der nächsten Seite steht.
16 August 2007
Moralische Probleme kreativ angehen
oder: die Schwierigkeit von ethischen Gedankenexperimenten.
Anthony Weston wählt dies in seinem Buch Creative problem solving in ethics (Oxford UP, 2007) als Beispiel dafür, wie ein Szenario zur irrigen Annahme führen kann, es gäbe ja nur zwei Möglichkeiten (entweder Heinz klaut die Medizin oder er sieht seiner Frau beim Sterben zu). Das ist sinnvoll, wenn das Szenario eingesetzt wird, um die moralischen Intuitionen von Kindern zu prüfen (was die Psychologen damit tun). Aber nicht als Beispiel für echtes moralisches Überlegen. Stattdessen müsse man sich fragen, was es denn sonst noch für Möglichkeiten gäbe.
Er schlägt vor: Heinz könnte dem Apotheker etwas anderes Wertvolles im Austausch anbieten, z.B. eine Dienstleistung, die er vollbringen kann. Oder, da die Medizin ja gerade erst entwickelt wurde, könnte Heinz' Frau sich als Testperson zur Verfügung stellen (und dafür sogar vom Apotheker bezahlt werden). Oder Heinz' Frau könnte in die Apotheke einbrechen, sich entdecken lassen und auf ihre Verhaftung warten: der Staat müsse schließlich Gefängnisinsassen medizinisch versorgen. Oder er wendet sich an seine Versicherung. Oder an seine Familie und Freunde.
Hhm. Weston schlägt Möglichkeiten aus dem wirklichen Leben vor: die wir hätten. Aber das Szenario ist ja nicht aus dem wirklichen Leben. Das Szenario ist entwickelt, um eine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten zuzulassen. Es eignet sich nicht als Beispiel. Es steht z.B. explizit drin, dass Heinz kein anderes Geld auftreiben konnte: schließt Familie, Freunde, Versicherung aus. Auch das Verhalten des Apothekers wird eigentlich nur dann plausibel, wenn man ihm Böswilligkeit unterstellt. Also wird er auch nicht eine andere Leistung von Heinz haben wollen. Und dass der Staat den Apotheker dazu zwingt, seine Medizin abzugeben: Tja, dann müsste das doch eine Medizin sein, die allgemein anerkannt ist, und nicht eine, die ein einziger Apotheker anzubieten hat.
Also: was macht Westons Buch? Es ist kein Ethik-Buch für den Umgang mit typischen Gedankenexperimenten aus der Literatur, weil es zu zeigen versucht, wie man am besten beim Nachdenken auf neue Ideen kommt, wie man also mit Situationen umgeht, die man dilemmatisch findet.
Würde mich interessieren, was die Moralische Entwicklungsforschung, welche derartige Dilemmata ja für den Unterricht konstruiert, damit anfängt...
(1) Quelle: Colby, A., Kohlberg, L. et al., The Measurement of Moral Judgement, Vol 2, Cambridge University Press, 1987.
Kennen Sie das Heinz-Dilemma vom Psychologen Lawrence Kohlberg?(1)
A woman was near death from cancer. One drug might save her, a form of radium that a druggist in the same town discovered. The druggist was charging $2000, ten times what the drug cost him to make. The sick woman's husband, Heinz, went to everyone he knew to borrow the money, but he could only get together about half of what it cost. He told the druggist that his wife was dying and asked him to sell it cheaper or let him pay later. But the druggist said "no".
Anthony Weston wählt dies in seinem Buch Creative problem solving in ethics (Oxford UP, 2007) als Beispiel dafür, wie ein Szenario zur irrigen Annahme führen kann, es gäbe ja nur zwei Möglichkeiten (entweder Heinz klaut die Medizin oder er sieht seiner Frau beim Sterben zu). Das ist sinnvoll, wenn das Szenario eingesetzt wird, um die moralischen Intuitionen von Kindern zu prüfen (was die Psychologen damit tun). Aber nicht als Beispiel für echtes moralisches Überlegen. Stattdessen müsse man sich fragen, was es denn sonst noch für Möglichkeiten gäbe.
Er schlägt vor: Heinz könnte dem Apotheker etwas anderes Wertvolles im Austausch anbieten, z.B. eine Dienstleistung, die er vollbringen kann. Oder, da die Medizin ja gerade erst entwickelt wurde, könnte Heinz' Frau sich als Testperson zur Verfügung stellen (und dafür sogar vom Apotheker bezahlt werden). Oder Heinz' Frau könnte in die Apotheke einbrechen, sich entdecken lassen und auf ihre Verhaftung warten: der Staat müsse schließlich Gefängnisinsassen medizinisch versorgen. Oder er wendet sich an seine Versicherung. Oder an seine Familie und Freunde.
Hhm. Weston schlägt Möglichkeiten aus dem wirklichen Leben vor: die wir hätten. Aber das Szenario ist ja nicht aus dem wirklichen Leben. Das Szenario ist entwickelt, um eine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten zuzulassen. Es eignet sich nicht als Beispiel. Es steht z.B. explizit drin, dass Heinz kein anderes Geld auftreiben konnte: schließt Familie, Freunde, Versicherung aus. Auch das Verhalten des Apothekers wird eigentlich nur dann plausibel, wenn man ihm Böswilligkeit unterstellt. Also wird er auch nicht eine andere Leistung von Heinz haben wollen. Und dass der Staat den Apotheker dazu zwingt, seine Medizin abzugeben: Tja, dann müsste das doch eine Medizin sein, die allgemein anerkannt ist, und nicht eine, die ein einziger Apotheker anzubieten hat.
Also: was macht Westons Buch? Es ist kein Ethik-Buch für den Umgang mit typischen Gedankenexperimenten aus der Literatur, weil es zu zeigen versucht, wie man am besten beim Nachdenken auf neue Ideen kommt, wie man also mit Situationen umgeht, die man dilemmatisch findet.
Würde mich interessieren, was die Moralische Entwicklungsforschung, welche derartige Dilemmata ja für den Unterricht konstruiert, damit anfängt...
(1) Quelle: Colby, A., Kohlberg, L. et al., The Measurement of Moral Judgement, Vol 2, Cambridge University Press, 1987.
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Ethik,
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21 Juni 2007
Moral und Rechnen
Nur die Utilitaristen müssen rechnen, um moralisch zu handeln? Es schadet jedenfalls nicht, wenn man rechnen kann, weil die meisten Theorien der Rationalität ein rechnerisches Element haben.
Spielen Sie? Tja: die Entscheidung hängt (rationalerweise) davon ab, ob Sie genug Geld haben, mehrfach zu spielen. Beim einfachen Spiel ist die Chance zu verlieren 69% (36/52). Spielen Sie eine Serie, dann muss man stärker berücksichtigen, wie hoch Gewinn und Verlust jeweils sind: (100 € x 4/52) + (25 € x 13/52) -- (10 € x 36/52) ist das durchschnittliche Spielergebnis: 7,04 € Gewinn pro Spiel. Viel besser als Roulette.
Das Beispiel stammt aus dem Buch The Moral Wager : Evolution and Contract (Dordrecht : Springer, 2007), in dem der Verfasser Malcolm Murray (Kanadier!) für eine Art Evolution moralischer Prinzipien plädiert. Es zeigt (was natürlich auch die Ethik längst weiß), dass Handlungsregeln (die sich als Serie von Einzelnhandlungen auffassen lassen) anders zu beurteilen sind als Einzelhandlungen. Murray meint dann zeigen zu können, dass sich eine bestimmte Handlungsregel als die erfolgreichste durchsetzt: "Don't do unto others without their consent".
Stimmt seine Betrachtung, dann ist das eine statistische Antwort auf die Frage "Warum moralisch sein?", die zugleich erklärt, warum es so schwierig ist, im Einzelfall zu zeigen, das moralisches Handeln sich lohnt.
Nehmen Sie eine Karte von einem kompletten 52er Spiel. Wenns eine Sieben ist, gibt's dafür 100 Euro, wenns Kreuz ist, gibt's 25 Euro, andernfalls kostet das Spiel 10 Euro.
Spielen Sie? Tja: die Entscheidung hängt (rationalerweise) davon ab, ob Sie genug Geld haben, mehrfach zu spielen. Beim einfachen Spiel ist die Chance zu verlieren 69% (36/52). Spielen Sie eine Serie, dann muss man stärker berücksichtigen, wie hoch Gewinn und Verlust jeweils sind: (100 € x 4/52) + (25 € x 13/52) -- (10 € x 36/52) ist das durchschnittliche Spielergebnis: 7,04 € Gewinn pro Spiel. Viel besser als Roulette.
Das Beispiel stammt aus dem Buch The Moral Wager : Evolution and Contract (Dordrecht : Springer, 2007), in dem der Verfasser Malcolm Murray (Kanadier!) für eine Art Evolution moralischer Prinzipien plädiert. Es zeigt (was natürlich auch die Ethik längst weiß), dass Handlungsregeln (die sich als Serie von Einzelnhandlungen auffassen lassen) anders zu beurteilen sind als Einzelhandlungen. Murray meint dann zeigen zu können, dass sich eine bestimmte Handlungsregel als die erfolgreichste durchsetzt: "Don't do unto others without their consent".
Stimmt seine Betrachtung, dann ist das eine statistische Antwort auf die Frage "Warum moralisch sein?", die zugleich erklärt, warum es so schwierig ist, im Einzelfall zu zeigen, das moralisches Handeln sich lohnt.
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Ethik
01 Februar 2007
Wie hat sich die Ethik entwickelt?
Oder genauer: Wie wurden Menschen zu moralischen Wesen? Die eine Theorie nennt Frans de Waal (Zoologe und Verhaltenswissenschaftler) die "Veneer Theory", die "Zahnkronen-Theorie": Moralität ist eigentlich ein Unfall der Evolution, die den egoistischen Kern des Mensch-Tiers nur übertüncht. Er sieht im Darwin-Zeitgenossen Huxley den ersten Vertreter dieser These, die er mit "from amoral animal to moral human" zusammenfasst. Das Attraktive an solch einem Gedanken ist, dass das spezifisch Menschliche eben nichts mit den niederen Sphären (oder gar den Genen: Dawkins) zu tun hat.
Dagegen vertritt de Waal eine darwinistische These: Moral hat sich mit allem übrigen entwickelt, der Mensch wurde "from social to moral animal". De Waal hat beides in einer Tabelle gegenübergestellt; in der Zeile "Empirical evidence" steht für die Huxley-These schlicht "none".
Nachzulesen in Primates and philosophers : how morality evolved (Princeton : Princeton UP, 2006). es handelt sich um de Waals Tanner lectures, und im gleichen Band sind auch die Kommentare einiger Hörer, z.B. von Peter Singer und Philip Kitcher; letzteren hatte ich hier ja schon mit einer ähnlichen Position vorgestellt.
Dagegen vertritt de Waal eine darwinistische These: Moral hat sich mit allem übrigen entwickelt, der Mensch wurde "from social to moral animal". De Waal hat beides in einer Tabelle gegenübergestellt; in der Zeile "Empirical evidence" steht für die Huxley-These schlicht "none".
Nachzulesen in Primates and philosophers : how morality evolved (Princeton : Princeton UP, 2006). es handelt sich um de Waals Tanner lectures, und im gleichen Band sind auch die Kommentare einiger Hörer, z.B. von Peter Singer und Philip Kitcher; letzteren hatte ich hier ja schon mit einer ähnlichen Position vorgestellt.
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Evolutionstheorie
19 Dezember 2006
Moral ist angeboren?
Das bekannteste moralische Gedankenexperiment dürfte der "runaway trolley" sein: Eisenbahnwagen rast auf eine Weiche zu; wird die nicht umgestellt, überrollt er fünf Gleisarbeiter, stellt der Leser sie um, aber nur einen. Was tun?
Ich meine, Philippa Foot hätte das Experiment aufgebracht. In Spiegel online (und wohl auch in der Druckausgabe) berichtet Jörg Blech über empirische Forschung, die zu klären sucht, wie die meisten Menschen in diesem Fall entscheiden würden. Gefragt wurde aber auch nach einer Alternative:
Blech teilt auch das Ergebnis mit: die meisten Leute würden die Weiche umstellen, aber nur 15% würden den dicken Mann schubsen, obwohl doch unterm Strich die gleiche Bilanz stünde. 300.000 Leute aus unterschiedlichsten kulturellen und sozialen Kontexten haben ihre Antwort abgegeben; da scheint schon so etwas wie eine interkulturelle, genetische (?) Konstante hervorzuleuchten. Blechs ausführlicher Artikel verdankt sich dem Buch von Marc Hauser, Moral minds, 2006 erschienen, das auch schon der Südeutschen einen Artikel wert war.
Ich meine, Philippa Foot hätte das Experiment aufgebracht. In Spiegel online (und wohl auch in der Druckausgabe) berichtet Jörg Blech über empirische Forschung, die zu klären sucht, wie die meisten Menschen in diesem Fall entscheiden würden. Gefragt wurde aber auch nach einer Alternative:
Und was, wenn ein dicker Mann auf einer Brücke direkt über dem Bahndamm stünde? Sein schwerer Körper würde den heranrasenden Zug aufhalten, die fünf Gleisarbeiter wären gerettet. Wäre es richtig, den Mann zu schubsen?
Blech teilt auch das Ergebnis mit: die meisten Leute würden die Weiche umstellen, aber nur 15% würden den dicken Mann schubsen, obwohl doch unterm Strich die gleiche Bilanz stünde. 300.000 Leute aus unterschiedlichsten kulturellen und sozialen Kontexten haben ihre Antwort abgegeben; da scheint schon so etwas wie eine interkulturelle, genetische (?) Konstante hervorzuleuchten. Blechs ausführlicher Artikel verdankt sich dem Buch von Marc Hauser, Moral minds, 2006 erschienen, das auch schon der Südeutschen einen Artikel wert war.
20 November 2006
Naturwissenschaften und Moralischer Blick
In seinem neuen Buch Science and virtue (London : Ashgate, 2006) geht Louis Caruana dem Zusammenhang nach, der zwischen einer naturwissenschaftlich forschenden Tätigkeit bzw. einer 'wissenschaftlichen Mentalität' und moralischem Verhalten besteht. Dabei interessiert er sich in der Hauptsache nicht für die Frage, inwiefern der Materialismus der Naturwissenschaften Empathie und Humanität abtötet -- das wäre ja eine Lieblingskritik an der zweiten Kultur --, sondern mehr für die Frage, wie wissenschaftliche Tätigkeit bestimmte Tugenden fördert, die zum 'guten Leben' beitragen. Ihm geht es sowohl um das gute Leben des Forschers selbst als auch um das 'gute Leben' oder Blühen der Menschheit.
Caruanas Essay hat durchaus eine normative Dimension: er wünscht die Verbindung von Wissen (als dem Ziel der Wissenschaften) und Weisheit. Erst in der Suche nach Weisheit würden die Tugenden wissenschaftlicher Mentalität verantwortungsvoll gebraucht. Deutlicher gesagt: sieht Caruana durchaus die Mängel in einer ausschließlich 'wissenschaftlichen' Mentalität -- nur konzentriert er sich auf deren Stärken.
Caruanas Essay hat durchaus eine normative Dimension: er wünscht die Verbindung von Wissen (als dem Ziel der Wissenschaften) und Weisheit. Erst in der Suche nach Weisheit würden die Tugenden wissenschaftlicher Mentalität verantwortungsvoll gebraucht. Deutlicher gesagt: sieht Caruana durchaus die Mängel in einer ausschließlich 'wissenschaftlichen' Mentalität -- nur konzentriert er sich auf deren Stärken.
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Tugend
Die Tugend der Eifersucht
Der Isländer Kristján Kristjánsson schreibt in seinem Buch Justifying Emotions : Pride and Jealousy (London : Routledge u.a., 2002, 2006 als Paperback) von der Rolle, die Gefühle in der Moral spielen. Wie der Titel schon vermuten lässt, geht es ihm darum, die Gefühle gegen die Ansicht zu verteidigen, sie würden nur das moralische Urteil vernebeln und seien darum hinderlich. Kristjánsson hält hingegen Gefühle für essentiell, und das scheint mir zu stimmen: erstens um der Rolle willen, die Gefühle in der Handlungsmotivation spielen, zweitens um des Anteils der Gefühle am Charakter willen. Kristjánsson versucht außerdem zu zeigen, dass eine gefühlsmäßige Reaktion oft eine rationale Reaktion ist, dass Gefühle also die Wahrnehmung bestimmter Erfahrungen unterstützen und damit die Grundlage für moralische Entscheidungen verbessern. Vor diesem Hintergrund sind die ausführlichen Kapitel über Eifersucht und Stolz zu lesen und das Unterkapitel über "Jealousy as a virtue" (S. 161ff.).
06 November 2006
Mogeln Amerikaner mehr als Japaner? Deutsche mehr als Briten?
Eine Studie im Global Virtue Ethics Review 5 (2004), 4, 5-31, lief mir gerade über den Weg, in der fünf Autoren von der Roger Williams University in Bristol / Rhode Island der Frage nachgehen, wie sich das Mogelverhalten von College-Studenten in den USA und Japan unterscheidet. Eines der ERgebnisse: " ... that the moral behavior of US students is below that of their Japanese counterparts". Wie funktioniert die Studie? Die Studenten wurden befragt, ob sie schon gemogelt hatten und ob sie mogeln würden. Das erstere dient der Herstellung einer "Mogelhistorie" für den einzelnen, die Rückschlüsse darauf zulassen soll, ob, wer früher mogelt, das später eher auch tut. Wenig überraschend: dem ist so. Und übrigens in Japan häufiger als in den USA. Wie dem auch sei, die Autoren meinen, dass die "Dunkelziffer" der echten Mogler sogar noch höher sein müsse, weil es ja den bekannten Effekt des (sozial) erwünschten Verhaltens in der Öffentlichkeit gebe, der Leute daran hindern könne, über ihr tatsächliches Mogelverhalten Auskunft zu geben. Dass dieses Verhalten auch umgekehrt wirken könne: dass Leute behaupten, sie hätten gemogelt, weil sie denken, dass die Umfrager das gern hören möchten, haben Richard A. Bernadi et. alii allerdings nicht bedacht, aber vielleicht ist das auch nur ein laienhafter Einwand.
In diesem Zusammenhang ist vielleicht noch der Blick auf eine Spiegel online-Geschichte von heute interessant. Im British Journal of Criminology 46, S. 1011, berichtet Christian Stöcker, sind die Ergebnisse einer größeren vergleichenden Studie zusammengefasst, die das moralische Verhalten von Deutschen, Engländern und Walisern untersucht. Die Wissenschaftler haben auch eine Erklärung für das zunehmende unmoralische Verhalten: die Wirtschaft ist schuld. Könnte sein. Das Recht ist schuld. Könnte auch sein. Einfaches Beispiel: Die Steuererklärung zu machen ist dermaßen kompliziert, dass die meisten Privatleute davon überfordert sind. Es ist leichter, den Staat zu betrügen, als die Möglichkeiten auszuschöpfen, die der Staat vorgesehen hat. Also trägt wohl eine komplizierte Steuererklärung dazu bei, dass Leute nicht mehr im Bus Platz machen, wenn eine Mutter mit Kinderwagen einsteigen will...
In diesem Zusammenhang ist vielleicht noch der Blick auf eine Spiegel online-Geschichte von heute interessant. Im British Journal of Criminology 46, S. 1011, berichtet Christian Stöcker, sind die Ergebnisse einer größeren vergleichenden Studie zusammengefasst, die das moralische Verhalten von Deutschen, Engländern und Walisern untersucht. Die Wissenschaftler haben auch eine Erklärung für das zunehmende unmoralische Verhalten: die Wirtschaft ist schuld. Könnte sein. Das Recht ist schuld. Könnte auch sein. Einfaches Beispiel: Die Steuererklärung zu machen ist dermaßen kompliziert, dass die meisten Privatleute davon überfordert sind. Es ist leichter, den Staat zu betrügen, als die Möglichkeiten auszuschöpfen, die der Staat vorgesehen hat. Also trägt wohl eine komplizierte Steuererklärung dazu bei, dass Leute nicht mehr im Bus Platz machen, wenn eine Mutter mit Kinderwagen einsteigen will...
22 Oktober 2006
Warum moralisch sein?
Ich habe gerade den Hinweis auf Marc D. Hausers Forschung gefunden. Der Psychologe aus Harvard beschäftigt sich u.a. mit der Frage, welchen empirischen Hintergrund altruistisches Verhalten hat -- bei nichtmenschlichen Spezies. Die Antwort auf seine Frage "Why be nice?" ist nicht überraschend: "Cooperation sometimes pays off". Oder anders ausgedrückt: Es gibt einen egoistischen Grund, altruistisch zu sein, jedenfalls für Tiere. Dabei stoßen Tiere, im Unterschied zu Menschen, auch schnell an Grenzen. Oder in Hausers Worten, aus seiner Zusammenfassung:
Den ganzen Aufsatz hier als pdf.
We argue, however, that most instances of animal cooperation can be attributed to either selfish or indirect benefits via mutualism and helping kin. We suggest that reciprocal altruism among unrelated indi-viduals is rare if not absent among animals, despite its ubiquity in humans. In cases where it occurs in the lab, it is unclear whether the patterns observed would generalize to more natural and less controlled situations. We propose that cognitive constraints on temporal discounting, numeri-cal discrimination, learning and memory, and other com-ponents limit the ability of many species to implement and maintain reciprocally altruistic strategies. If correct, then comparative research must illuminate which components are shared with other animals, which are unique to hu-mans, and why certain components evolved in our species and no other.
Den ganzen Aufsatz hier als pdf.
23 September 2006
Kitcher und Nordhofen über eine Ethik mit und ohne Gott
Philip Kitcher schrieb in der ZEIT Nr. 38 vom 14.9. über eine "Ethik ohne Gott". Neu war für mich sein Ansatz: Kitcher skizziert die (mögliche) Entstehungsgeschichte von Ethik und zeigt sie dabei als eine Funktion menschlicher Gesellschaft, die ihre Entstehung und Entwicklung überhaupt ermöglicht. Dies geschieht im Vergleich mit dem Verhalten von Schimpansen in ihren Gemeinschaften. Dort kann man empathisches, d.i. einfühlendes und damit altruistisches Verhalten beobachten, aber auch, wie es oft in Konflikt gerät mit den eigenen Wünschen.
Abschließend geht Kitcher auf die "unauflöslichen Meinungsverschiedenheiten" ein, die im Konflikt mit denjenigen entstehen mögen, die sich nicht der Relativität und Gewachsenheit ihrer Moral bewusst sind, z.B. religiös orientierten Gesellschaften. Entweder gelingt es, diesen den historischen, relativierenden Blick zu schärfen, oder man ist auf das vorethische, allein empathische Verhalten der Schimpansen zurückgeworfen (überspitzt gesagt).
Der Titel "Ethik ohne Gott" ist von der ZEIT deutlich polemisch gewählt, denn die religiöse Begründung von Moral spielt in Kitchers Überlegungen nur eine kleine Rolle. Trotzdem gibt sie den Kern ab für die "Replik", die Eckhard Nordhofen eine Woche später an gleicher Stelle in der ZEIT (Nr. 39) veröffentlicht, Titel: "Vom Nutzen und Nachteil des Glaubens". Man muss Nordhofens Beitrag mehrmals lesen, um seinen Punkt mitzubekommen, weil er so sehr an Kitchers Überlegungen vorbeigeht. Nordhofen stellt im Grunde fest, dass das religiöse Fundament von Moral für gläubige Menschen von Vorteil ist, weil es ihnen hilft, sich an die Regeln zu halten; sie haben, sozusagen, einen guten Grund, moralisch zu handeln. Diese These ist, finde ich, weder besonders strittig noch besonders wichtig, denn sie trägt nicht dazu bei, zukünftige moralische Fragen zu lösen: weder kann man Leuten, die nicht religiös sind, mit dieser Überlegung dazu bringen, religiös zu werden, noch kann man damit die moralischen Konflikte mit Gruppen, die anders religiös sind als man selbst, wirkungsvoll angehen. Im Untertitel heißt es bei Nordhofen: "Werte sind mehr als Spielregeln. Doch wenn Menschen sie eigenmächtig für gottgewollt erklären, taugen sie nicht viel". Jaja, möchte man sagen. Na und?
Also: Lieber nur Kitchers Aufsatz lesen, das bringt mehr!
Menschlich im eigentlichen Sinne wurden wir erst, als wir Wege fanden, sozial unverträgliches Verhalten zu verhindern und altruistische Fähigkeiten zu verstärken,schreibt Kitcher. Diese Errungenschaft sei an die Verwendung von Sprache geknüpft; Regeln müssen formuliert und mit Verhalten verglichen werden. Die Regelsysteme sind dann einem Prozess der Entwicklung ausgesetzt, der wie eine Evolution beschrieben werden kann: sie müssen sich bewähren in unterschiedlichen Umwelten; manche Regeln werden aufgegeben, andere kommen hinzu. Der Blick auf die Geschichte der kodifizierten Moral zeigt, wie unterschiedliche Gesellschaften sich unterschiedlichen Regeln unterwarfen. Kitchers Schlussfolgerung:
Dieser Blick auf die historischen Wurzeln unserer ethischen Begriffe mag für die Zukunft hilfreich sein. In Debatten über ethische Fragen kann man sich nicht darauf beschränken, Dogmen konkurrierender Traditionen auszutauschen oder unauflösliche Meinungsverschiedenheiten einfach hinzunehmen.Kitcher erblickt hier also eine Möglichkeit, mit den Meinungsverschiedenheiten umzugehen. Das Bewusstsein davon, wie die moralischen Regelsysteme gewachsen sind, und vor allem davon, dass sie Antworten auf frühere Fragen enthalten, die nicht unbedingt dazu taugen, zukünftige moralische Probleme anzugehen, schärft den Sinn für ihre Grenzen.
Abschließend geht Kitcher auf die "unauflöslichen Meinungsverschiedenheiten" ein, die im Konflikt mit denjenigen entstehen mögen, die sich nicht der Relativität und Gewachsenheit ihrer Moral bewusst sind, z.B. religiös orientierten Gesellschaften. Entweder gelingt es, diesen den historischen, relativierenden Blick zu schärfen, oder man ist auf das vorethische, allein empathische Verhalten der Schimpansen zurückgeworfen (überspitzt gesagt).
Der Titel "Ethik ohne Gott" ist von der ZEIT deutlich polemisch gewählt, denn die religiöse Begründung von Moral spielt in Kitchers Überlegungen nur eine kleine Rolle. Trotzdem gibt sie den Kern ab für die "Replik", die Eckhard Nordhofen eine Woche später an gleicher Stelle in der ZEIT (Nr. 39) veröffentlicht, Titel: "Vom Nutzen und Nachteil des Glaubens". Man muss Nordhofens Beitrag mehrmals lesen, um seinen Punkt mitzubekommen, weil er so sehr an Kitchers Überlegungen vorbeigeht. Nordhofen stellt im Grunde fest, dass das religiöse Fundament von Moral für gläubige Menschen von Vorteil ist, weil es ihnen hilft, sich an die Regeln zu halten; sie haben, sozusagen, einen guten Grund, moralisch zu handeln. Diese These ist, finde ich, weder besonders strittig noch besonders wichtig, denn sie trägt nicht dazu bei, zukünftige moralische Fragen zu lösen: weder kann man Leuten, die nicht religiös sind, mit dieser Überlegung dazu bringen, religiös zu werden, noch kann man damit die moralischen Konflikte mit Gruppen, die anders religiös sind als man selbst, wirkungsvoll angehen. Im Untertitel heißt es bei Nordhofen: "Werte sind mehr als Spielregeln. Doch wenn Menschen sie eigenmächtig für gottgewollt erklären, taugen sie nicht viel". Jaja, möchte man sagen. Na und?
Also: Lieber nur Kitchers Aufsatz lesen, das bringt mehr!
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17 Juli 2006
Gegen den Formalismus ...
schreibt der Leipziger Philosoph Henning Tegtmeyer in der neuen Ausgabe der AZP (31.2), S. 131-152. Formalismus, darunter versteht er in der Ästhetik, dass jemand allein die formalen Eigenschaften eines Werks ästhetisch bewertet. Eine solche Auffassung wäre von moralischen Erwägungen oder vom (kognitiven) Gehalt eines Werks unabhängig, auch von der Erlebnisqualität oder weiteren Eigenschaften. In der Ethik betrachtet Tegtmeyer als Formalismus ein "formal konsistentes System deontischer Sätze", das auf seine Erfüllungsbedingungen hin konzipiert wird, im Unterschied zu einem moralischen Denken, das den Gelingensbedingungen moralischen Handelns gilt (S. 140). Werden Ethik und Ästhetik in diesem Sinne interpretiert, dann ergibt sich eine ganze Reihe fruchtbarer Berührungen: so lasse sich der ästhetische Wert von Kunstwerken nicht in Abstraktion von ihrem ethischen Gehalt beschreiben, so stünden die klassischen Moraltheorien der Neuzeit einem angemessenen Verständnis tragischer Konflikte im Wege, um nur zwei der aufgeführten Beispiel zu nennen. Das letzteres richtig ist, sieht man leicht, wenn man einen Blick auf die Diskussion moralischer Dilemmata wirft. Dort werden die klassischen Tragödien gern als Beispiel gebraucht. Ich erinnere mich an einen Aufsatz von Bernard Williams, in dem dieser feststellt, dass die tragischen Konflikte eben auf einem Fehler der zugrundeliegenden Moraltheorie der Figuren beruhten. Damit ist der Gordische Knoten zerhauen statt aufgelöst...
Im wesentlichen geht es Tegtmeyer aber um die Ästhetik und die Frage, wie sie jenseits des skizzierten Formalismus aussehen könnte bzw. welchen Gewinn die Ästhetik davon hat. Lesenswert für alle, die sich für die Gemeinsamkeiten zwischen Ethik und Ästhetik interessieren!
Im wesentlichen geht es Tegtmeyer aber um die Ästhetik und die Frage, wie sie jenseits des skizzierten Formalismus aussehen könnte bzw. welchen Gewinn die Ästhetik davon hat. Lesenswert für alle, die sich für die Gemeinsamkeiten zwischen Ethik und Ästhetik interessieren!
26 April 2006
Ist das Böse eine Krankheit der Menschheit?
Es lässt sich als eine beschreiben: es verbreitet sich wie ein Virus, und wenn der Virus zu aggressiv wird, wird er seinen Wirt auslöschen. So in Kurzform "the first comprehensive psychology of Human Evil", das neue Buch von Steven James Bartlett: The pathology of man : a study of human evil, Springfield : Thomas, 2005.
The human species is shown to be autopathological in many ways, as well as pathological in its effects upon global biodiversity. [...] Finally, the work initiates a reflexive examination of how mankind's aggression, destructiveness, and cruelty to members of its own species are fostered and maintained by human patterns of thought and by a conceptual vocabulary that together ecourage a certain interpretation of the world that itself is pathological. (Klappentext)
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24 April 2006
Analytische Ethik ...
Die Tage nach Ostern habe ich dazu benutzt, den dritten Teil meiner Einführung in die analytische Ethik für's Web aufzubereiten. Kommentare dazu bzw. zu allen verfügbaren Teilen sind willkommen.
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Ethik
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