Rezension zu Olaf Breidbach: Neue Wissensordnungen : Wie aus Informationen und Nachrichten kulturelles Wissen entsteht. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2008. - (Edition Unseld ; 10)
Die Rezension erschien in Buch und Bibliothek 61 (2009) 4, S. 281-282.
Die Bücher der im letzten Jahr gestarteten „Edition Unseld“ sind dünn und billig, sie zielen damit auf ein größeres Publikum. Anspruchsvoll streben die ersten Bände der Edition danach, den Lesern die Welt zu erklären, oder kantischer noch, die Bedingungen einer solchen Welterklärung zu diskutieren.
In diese Kategorie fällt auch der Band von Olaf Breidbach über die „Neuen Wissensordnungen“, der eben nicht bestimmtes Wissen vermitteln möchte, sondern das Wissen für sich als kulturelles und historisches Phänomen in den Blick nimmt. Das lässt eigentlich – für Bibliothekare als Arbeiter an oder in der Wissensordnung zumal – interessante Lektüre erwarten. Doch dürfte es auch außerhalb unseres Berufsstandes nicht allzu viele Leser geben, die Honig aus dem Büchlein saugen können, weil der Jenaer Professor für die Geschichte der Naturwissenschaften mehr Mühe auf die Ausbreitung seines reichen Materials denn auf seine Aufbereitung verwandt hat. In welcher Form sich das bemerkbar macht, dazu komme ich gleich. Zunächst zum Inhalt.
Das Buch wird regiert von zwei Grundgedanken, die Breidbach verschiedentlich wiederholt. Der erste steckt auch im Titel: Information und Wissen sind nicht dasselbe, sondern Wissen entsteht erst aus Information, und zwar durch Interpretation und Reflexion. Wissen ist „interpretierte Information“ (S. 12, 168 u.ö.). Die zweite betrifft das Wesen der Interpretation: eine neue Information kann nur interpretiert werden, indem man sie in Beziehung setzt zu dem, was schon gewusst wird, also indem man sie in das „Netz“ seines Wissens einbezieht – und dies führt notwendig dazu, dass das Netz sich verändert. Wissensordnung muss man dynamisch verstehen, nicht statisch! Das Buch versucht zu erklären, was diese beiden Gedanken bedeuten und welche Folgen sie haben dafür, wie Wissensordnung zu modellieren wäre.
Dem ersten Gedanken nähert man sich vielleicht am einfachsten über einen Vergleich mit der platonischen Wissensauffassung, die als Diskussionsfolie auch noch die zeitgenössische Erkenntnistheorie regiert.
Für Platon bedeutet etwas zu wissen, eine „wahre, gerechtfertigte Meinung“ über etwas zu haben. „Wissen“ findet damit zwar im Kopf eines wissenden Subjekts statt, aber seine Überprüfung kann außerhalb geschehen, indem man fragt: Ist es wahr? Lässt sich eine Rechtfertigung dafür angeben? Interessanterweise impliziert diese platonische Definition auch eine bestimmte Weise, wie der Kosmos allen möglichen Wissens zusammenzudenken wäre: er kann ja nur als allen möglichen wahren Sätzen bestehen. Hätte man diese, käme es nur darauf an, sie in die rechte Beziehung zu einander zu setzen.
Breidbach nennt solche Zusammenstellung die „absolute“ Konzeption einer „Wissensordnung“, und sie hat sich voll entfaltet im wissenschaftlichen Gottvertrauen des Barock. Sie ist naiv, weil sie sich darauf verlässt, dass sich das Wissen von selbst ordnet. Dafür liegt mir das bibliothekarische Beispiel nahe: Wer Klassifikationen verwendet, weiß schon, dass dies Einordnen nicht immer klappt. Solch Einordnen von etwas ‘Gewusstem’ ist stets ein bewusster Akt, weil dafür Entscheidungen nötig sind, und diese Entscheidungen betreffen stets auch die Frage, ob das, was da gerade klassifiziert wird, überhaupt schon einen Platz in der Ordnung hat – oder ob man ihm einen neuen schaffen muss. Aus letzterem erhöbe sich gleich die nächste Frage: Muss nun vielleicht auch an anderer Stelle der Klassifikation geändert werden, um der neuen Klasse gerecht zu werden? Die eine neue zu klassifizierende Information führt also möglicherweise zu tieferen Änderungen der Klassifikation. Oder abstrakter, außerhalb meines Beispiels, formuliert: Information zu interpretieren bedeutet, sie „auf den Gesamtkontext der schon verfügbaren Informationen zu beziehen“ (S. 127). Das Neue, wird es eingeordnet, verändert die Ordnung. Nur dann kann auch die Gesamtheit des Wissens größer sein als die Summe der Einzelinformationen: weil die Interpretationsleistung hinzutritt.
Breidbach legt Wert darauf, dass das Interpretieren von Informationen seinerseits keineswegs voraussetzungsfrei ist, sondern nur angemessen verstanden werden kann als Reflex der historischen Situation und des kulturellen Umfeldes, indem es geschieht. Zudem müssen die Verfahren des Interpretierens bzw. der Bewertung von Informationen selbst als Ausdruck praktischen Wissens und damit als Teil der Wissensordnung beschrieben werden: ganz schön kompliziert!
Leider trägt das Buch für den bibliothekarischen Leser wenig aus. Das hat damit zu tun, dass Breidbach zwar hin und wieder sich mit den ‘materiellen Repräsentanten’ einer Wissensordnung beschäftigt oder sie als Beispiele heranzieht, wie eben Klassifikation oder Enzyklopädie. Aber das eigentliche Geschehen der Wissensordnung ist für ihn abstrakt im „Erfahrungs-, Sprach- und Handlungsraum“ (S. 149) der Kultur zu suchen. Mehr als die Frage, wie die Dynamik des Wissens ihren angemessenen Niederschlag in den Werkzeugen der Wissensaufbereitung (z.B. in Datenbanken) finden könnte oder sollte, reizt ihn das Nachdenken darüber, wie sich die Dynamik des Wissens neurobiologisch, systemtheoretisch oder computertechnisch „modellieren“ lässt. Überlegungen zu solchen Modellen dürften allerdings nur für wenige Leser zum Verständnis des Gesamtthemas beitragen, zumal Breidbach sich zur Darstellung der jeweiligen Fachsprache bedient.
Ohnehin hat Breidbach es versäumt, auf die Zielgruppe der Edition Unseld – den interessierten und gebildeten Laien – Rücksicht zu nehmen. Er präsentiert einen Wildwuchs der Gedanken und Beispiele, der Theorien und Fachsprachen, in häufig assoziativ erscheinender Folge und mit Teilwiederholungen, deren Funktion sich nicht immer erschließt. So findet sich eine definitorisch klingende Formulierung wie „Wissen ist ...“ an die zwanzig Mal im Buch; es bleibt aber dem Leser überlassen, ob oder wie er die verschiedenen Formulierungen unter einen Hut bringt.
Breidbachs Inhaltsverzeichnis bietet ebenfalls keine Orientierung, sondern ist eine Liste aus wenig aussagekräftigen Einzelbegriffen: 75 Einträge bestehen aus einem Wort, 5 aus zweien, und es sind Worte wie „Beschreibungen“, „Zentrierungen“ oder „Kultivierungen“ (letzterer muss gleich für zwei Abschnitte herhalten). Hier hätte man dem Autor den Mut gewünscht, seinen Stoff für den Leser stärker zu reduzieren und aufzubereiten. Ich würde Interessierten jedenfalls eher David Weinbergers weniger anspruchsvolle, dafür ansprechendere und mehr an unserer Praxis orientierte, gut gelaunte kleine Kultur- und Handlungsgeschichte der Wissensordnung Everything is miscellaneous (in deutscher Übersetzung: Das Ende der Schublade) zur Lektüre empfehlen.
21 April 2009
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Vielen Dank! Eine sehr hilfreiche Rezension. Ich denke auc, dass sie Breidbach ein wenig übernommen hat. Das was er sagt, ist letztlich nicht mehr als ein neurobiologisches Aufbäumen gegen Foucault.
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