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13 August 2006

Günter Grass' Gebrauchtwagen

Dass nach Grass' Bekenntnis er sei als 17jähriger Mitglied der Waffen-SS gewesen, die Öffentlichkeit aufschreien würde, erstaunt nicht. Was hier in Anschlag gebracht wird, ist das augenscheinliche Missverhältnis zwischen Tun und Empfehlen. Grass gibt (gab) sich als moralische Autorität, hat aber selbst in der Jugend gesündigt. Wie soll man dazu stehen?
Nicht so wie Martin Walser jedenfalls. Der beobachtet zwar richtig das Reflexhafte der Reaktionen, das scheint ihm aber zu genügen: eine ihrerseits oberflächliche Antwort (wahrscheinlich freut sich Walser einfach, das er mal Grass an die Seite treten kann).
Grass' SS-Vergangenheit scheint von manchen als persönliche Kränkung erlebt zu werden, die seine moralische Autorität schätzten. Sie sind beleidigt, weil sie ihm geglaubt oder seinen Äußerungen früher einen besonderen Stellenwert eingeräumt haben. Spiegel online zitiert Joachim Fest mit der Äußerung, er wolle von Grass nun nicht einmal mehr einen Gebrauchtwagen kaufen. (Ja, das zeigt, dass Grass wirklich als moralische Instanz diskreditiert ist, wenn man nun nicht einmal mehr einen Gebrauchtwagen von ihm kaufen kann.)
Und moralische Autorität, stellt sich heraus, besteht nicht etwa darin, dass man das Richtige sagt, fordert, empfiehlt. Sondern darin, dies schon immer und unveränderlich als das Richtige erkannt zu haben. Damit führt die moralische Autorität in eine religiöse Dimension, weil sie ein Verhaltensmuster erlaubt, das auch im Umgang mit göttlichen Geboten erwünscht ist: die unreflektierte Übernahme.
Jetzt fordert Grass' Bekenntnis zur Reflexion seiner Äußerungen heraus. Stimmen sie noch? Müssen wir jetzt genauer hinsehen? Wie unbequem!

Ein zweites religiöses Deutungsmuster zeigt sich: Vorher war Grass ein Heiliger, Nobelpreis und Ehrenbürgerwürde von Danzig sind die äußeren Zeichen. (Soll Grass beides zurückgeben? Vielleicht äußert er sich dazu noch öffentlich. Sein eigenes moralisches Empfinden beschäftigt sich bestimmt damit.) Dass Heilige (wie z.B. Aurelius Augustinus) Sünder gewesen sein können, bevor sie Anhänger der 'richtigen Moral' wurden, deutet vor allem auf den etablierten Weg vom einen Status zum anderen: man darf nicht heimlich zum Heiligen werden, sich nicht selbst taufen, nicht für sich abschwören. Alle müssen mitkriegen, ab wann man moralisch untadelig leben möchte.

3 Kommentare:

  1. So wie ich das mitbekomme, ereifern sich die meisten Kritiker (insbesondere auch Fest) nicht über die Tatsache seiner SS Vergangenheit an sich, sondern über das späte (verspätete?) Coming-Out.
    Insofern gibt es schon ein Missverhältnis zwischen Tun und Empfehlen, weil Grass ja auch öffentlich immer wieder (vor allem in den 60ern) das allgemeine Schweigen verurteilte.
    Es wird also keinesfalls ein religiöses Moralverständnis propagiert, insofern, dass nur derjenige integer ist, der es immer und überall war, sondern es wird eben jene Diskrepanz von Forderung und Handeln eingeklagt, was den Umgang mit der eigenen Vergangenheit angeht.
    (Zudem halte ich das religiöse Moment für eine völlig falsche Analogie, da insbesondere das Christentum von einer völlig Sündenlosen Existenz absieht. "Wer von euch ohne Sünde ist ....")

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  2. Nein, das Christentum sieht nicht von einer völlig sündenlosen Existenz ab. wer getauft ist, kann völlig sündenlos sein, weil die Taufe alle Sünden abwäscht. Daher die Doktrin der Nottaufe von Neugeborenen, um die Erbsünde abzuwaschen. --
    Ich muss mich wohl klarer ausdrücken :-). Ich sehe zwei Momente, für die es in der Religion Analogien gibt. Erstens: Die Rolle der moralischen Autorität, die nicht auf der moralischen Richtigkeit des Gebotenen beruht, sondern einfach auf der Autoritätsgeschichte des Gebietenden. (Gottes Gebote sind gut, weil Gott sie geboten hat.) Beruhte die moralische Autorität auf der Wahrheit / der Überzeugungskraft der Argumente, wäre sie wohl weniger in Gefahr. Zweitens: Heiligkeit als Modell für den Lebenswandel. Nur wer immer untadelig war, darf Vorbild sein. Die Kirche hat zwar auch mit dem Saulus-Paulus-Modell ein Beispiel erfolgreichen Neuentwurfs, aber da kommt die Taufe dazwischen, das öffentliche.
    Stimmt aber: Grass' Rolle als Mahner zur Öffentlichkeit müsste man wohl stärker berücksichtigen.

    "Coming out" ist eine weitere interessante Analogie, weil sie interpretiert: Heißt das, das Grass hier eine heimliche Neigung öffentlich macht? Dass er bisher gegen seine eigentliche Natur gelebt habe? Grass selbst sagt ja, dass ihn sein Schweigen belastet habe.

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  3. Nun, das Saulus-Paulus-Ding, sowie die (Stellvertreter)-Passion Christis, die Idee der Bekehrung und die Rückkehr des verloren Sohnes, etc., das alles ist ein wenig zu viel, als das man es unter "hat zwar auch" subsummieren könnte. Die Idee der "Vergebung der Sünden", setzt erstmal die Sünde und damit die Fehlbarkeit des Menschen voraus und ist somit zentral und nicht supplementär im Christentum verankert.

    Was Grass anbetrifft, so ist sicherlich die Offenlegung (in diesem Zusammenhang vielleicht "Beichte") in dieser Diskussion ein wichtiger Bestandteil. Ich würde hier gerne mithilfe des Wortes "Transparenz" dem religiösen Diskurs entkommen:
    Wenn jemand öffentlich und freiwillig zu einem Sachverhalt Stellung bezieht, so sollte er persönliche Verstrickungen zu diesem Sachverhalt bitte auch auf den Tisch legen. Allein um den anderen die Chance einzuräumen, anhand dessen seine Aussagen abzuwägen.
    Denn ja: Es macht einen Unterschied, ob jemand SS-Kader verurteilt, der selber Mitglied war, als wenn das jemand tut, der es nicht war.
    Und es macht einen Unterschied, ob jemand das Ende des Schweigens fordert, der selber schweigt, als wenn es jemand tut, der nichts zu verschweigen hat. Grass hat uns einfach eine wichtige Information vorenthalten, die zur Bewertung und Einordnung des von ihm Gesagten wichtig ist. Natürlich kann man sich da betrogen fühlen.

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