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22 Dezember 2005

Wie verständlich Unverständliches sein kann

Ich nehme hier Bezug auf den Kommentar von mspro zur Frage der Sprachlichkeit und Verständlichkeit von Musik. Er schrieb:
Der Irrtum ist meiner Meinung nach darin begründet, dass Sprache seit jeher als primär akustische gedacht wird.
Aber dass Musik aber vielleicht doch sprachliche Eigenschaften hat, sieht man
eben an der Tatsache, dass Musik eben nicht a priori verständlich ist, oder
vielleicht überhaupt verständlich sein kann. Da braucht man gar nicht bis zu
John Cage gehen, das fängt schon bei meinen Eltern an, die meinen Musikgeschmack
nicht "verstehen". Auch indische oder orientalische Musik klingt für ungeübte
Ohren zunächst eine Ansammlung falscher Töne.
Es gibt also doch eine gewisse Idiomazität in der Musik, das kann man nicht
leugnen.
Ich finde es einen interessanten Gedanken, die Sprachlichkeit gerade darin zu begründen, dass es zunächst nicht verständlich ist -- aber so würde ich es sicher nicht ausdrücken. Das scheint doch das Unverständliche ein bisschen hoch zu hängen. Eher weiter kommt man vielleicht mit der Beobachtung, dass Musik -- wie Sprache -- zuweilen den Eindruck erweckt, man habe sie verstanden. Diesen Eindruck kann man behalten, er wird durch das Weiterhören nicht beschädigt, selbst wenn man sich in Wirklichkeit darin irrt, dass man die Musik versteht.
Als Beleg eine Beobachtung des ehemaligen Göttinger Musikethnologen Brandtl: Er war mal bei einem Konzert einer afrikanischen Jazzband in einem Frankfurter (?) Musikkeller. Die Musik der Schwarzafrikaner war so swingend, dass das Publikum anfing, dazu zu tanzen. Mitten im Stück brachen die Spieler jedoch ab und baten darum, nicht mehr zu tanzen. Der Anblick der Tänzer würde sie stören, weil die Tänzer falsch tanzten. Die Erklärung: Europäische Ohren nehmen die tiefen Töne als Maß für den Rhythmus. Die Afrikaner richteten sich hingegen nach dem Schlagzeug, dass in mittlerer Höhe gespielt wurde. Die Tänzer betonten also die falsche "Eins" im Takt. Es wäre ihnen nie aufgefallen...

Bin nun zweieinhalb Wochen still. Gutes neues Jahr!

21 Dezember 2005

Ethik für Jugendliche aufbereitet

Wie die Bundeszentrale für Politische Bildung das Thema Ethik Jugendlichen nahebringt, kann man in der neuesten Ausgabe des Magazins Fluter sehen.

20 Dezember 2005

Neue philosophische Datenbank online

Seit dem 1.12. sind die OLC SSG Philosophie online unter <http://gso.gbv.de/DB=2.140/>. Die Datenbank ist zugänglich in Deutschland über die Uninetze und andere freigeschaltete wissenschaftliche Institutionen, also leider nicht von zu Hause aus. Ausgewertet werden per Scan der Inhaltsverzeichnisse zur Zeit 185 Zeitschriften, und zwar seit 1993. Wer wissen möchte, welche Zeitschriften das sind, bekommt eine Auflistung über diesen Link.
Was kann diese Datenbank im Vergleich zum Philosopher's Index? Sie ist kleiner und erschließt die Beiträge weniger gut, da nur durch Scans. Aber sie wird in Zukunft (2006) erweitert werden um ein vermehrtes Angebot deutschsprachiger Zeitschriften aus dem Bestand der UB Erlangen. Damit wird die Datenbank dann den deutschprachigen Raum hoffentlich besser abdecken als der PI!

19 Dezember 2005

Folter und Geheimdienste

Soll der deutsche Geheimdienst Erkenntnisse verwerten, die womöglich unter Folter erpresst worden sind? Peter Müller "schließt nicht aus", dass der Geheimdienst solche Informationen zur Gefahrenabwehr verwendet, auch wenn sie vor Gericht keinen Bestand hätten, teilt Spiegel online mit. Das klingt doch ganz pragmatisch, und es bedeutet im Klartext: Ich würde selbst nie foltern, und wenn andere das tun, dann ist das schlimm. Aber man wäre ja blöd, wenn man nicht die Erkenntnisse nutzen würde, die dabei herausspringen. Und da ist was wahres dran: man wäre wirklich blöd. Trotzdem ist zu fragen, ob diese Lösung nicht moralischer Faulheit entspringt. Wieviel ist das Bekenntnis gegen Folter wert, wenn man genau weiß, dass man diese bloß befreundeten Staaten zu überlassen braucht?
Ich spüre ein Unbehagen, wenn der (unser) Staat mit Terroristen und Fanatikern umgeht. Das hat damit zu tun, dass der Staat ihnen immer unterlegen ist: Die setzen ihr Leben ein. Womit kann man ihnen drohen? Wie kann man sie erreichen? Haben wir etwas vergleichbares dagegenzusetzen? Vermutlich nicht -- und womöglich liegt gerade darin die Überlegenheit unserer Gesellschaftsform.
Asymmetrie: Die sind bereit zu sterben, um ihr Ziel zu erreichen, die Vertreter des Staates nicht. Manche Staaten stellen so etwas wie Symmetrie wieder her, indem sie zumindest bereit sind zu töten -- oder was ihnen sonst so einfällt. Aber damit werden sie dem ähnlicher, was sie bekämpfen.
Und eine weitere Asymmetrie: Terroristen und Fanatiker sind immun gegen Irrtum in ihrem Tun. Wir hingegen irren. Deswegen gibt es ja ein langwieriges, regelgeleitetes System, um die Wahrheit herauszufinden z.B. in Gerichtsverhandlungen. Schon darum sollten wir die Regeln nicht aufgeben.

13 Dezember 2005

Stephen Davies über die Philosophie der Musik

Ist John Cages 4'33'' Musik? Was bedeutet es, wenn eine Aufführung "authentisch" ist? Wie bewerten wir Musik, und wie sollten wir? Stephen Davies geht in Themes in the Philosophy of Music dieser und anderen Fragen nach. Die Frage nach Cages 4 Minuten und 33 Sekunden vorgeschriebener Stille leitet den Essayband ein. Davies argumentiert dafür, dass die Provokation von Cage sehr wohl unseren Musikbegriff erweitert -- aber nicht in die Richtung, die Cage intendierte. Sorgfältig und kenntnisreich argumentiert. Interessant finde ich auch das dritte Kapitel mit Essays zur Frage der Sprachlichkeit und zur Ausdrucksfähigkeit von Musik.

Stephen Davies hat leider einen Namen wie viele andere. Netterweise packte Google ihn ganz nach oben. Ansonsten hilft die Information, dass er in Neuseeland an der University of Auckland lehrt. -- Wer möchte, kann über Ingenta connect eine Rezension von Marc DeBellis lesen: für nur 31 Dollar! Das Buch selbst kostet im jetzt erschienenen PB 18 Pfund...

11 Dezember 2005

Mach ein Bild! Philosophenporträts für lau

Wie Descartes aussieht, das weiß man, oder wie Kant aussieht. Manche Bilder sind längst zur Ikone geworden, die schon als Bestandteil eines Logos taugen, bei den verschiedenen philosophischen Fakultäten, bei Online-Zeitschriften, bei sonstigen philosophischen Foren.
Aber wie sehen die weniger bekannten aus? Was ist mit d'Alembert, Giordano Bruno, mit Ritschl? Der Thoemmes-Verlag bietet nicht nur eine recht umfangreiche Galerie in Bildschirmtauglicher Auflösung, sondern auch die Möglichkeit zur privaten Nutzung der Bilder mit höherer Auflösung. Manches nette Fundstück ist darunter auch bei jenen Philosophen, deren zwei oder drei bekannte Porträts man praktisch auf jedem Buch über sie findet, unter anderem diese gruselige Porträtzeichnung von Wittgenstein.

10 Dezember 2005

Skeptizismus lebt!

Theorien wie der Kontextualismus (hier Willascheks Zusammenfassung für das Kontextualismus-Sonderheft der Deutschen Zeitschrift für Philosophie) gehen mit der skeptischen Herausforderung um, indem sie ihr einen Sonderstatus zuweisen. Das klappt umso besser, je weiter weg von der Alltagserfahrung sich die skeptische Frage positioniert, als Dämon oder Gehirn im Tank etwa. Umso interessanter muss daher ein Skeptizismus erscheinen, der das schlichte Ausweichen nicht zulässt. Bryan Frances zeigt in Scepticism comes alive (Oxford : Clarendon, 2005), wie das aussehen könnte. Das skeptische Argument, in der Fassung seines Vorworts:
In order to know P, one must be able to rule out some nonP possibilities. For instance, in order to know that the tree is a fir, one has to rule out the possibility that it's a spruce or a hemlock. At least, one has to rule out those possibilities provided they are real, scientifically respectable, 'live' hypotheses; one is aware that they have such respect; and one si perfectly aware that those hypotheses conflict with one's belief that the tree is a fir. For instance, you came across the tree while taking a stroll through a forest with a tree expert. You said the tree was a fir, but she said that it's quite hard to tell from this vantage-point because spruces and hemlocks look the same and there are lots of them around here. Those nonP possibilities are 'relevant alternatives', as it is often said. Perhaps the brain-in-a-vat possibility doesn't need to be ruled out; but the spruce and hemlock possibilities do need to be ruled out. Assuming I can't rule out the spruce possibility, I don't know that the tree is a fir -- even if the tree is a fir. At least, I don't know it's a fir tree once I'm aware of the live status of the spruce and hemlock possibilities.
But now here's the kicker: there are several real, scientifically respectable, 'live' hypotheses that can be used in the very same argument template as in the previous paragraph.
Was für Hypothesen könnten das sein? Hier eine Online-Zusammenfassung als Nous-Artikel aus Frances' eigener Feder.

06 Dezember 2005

Olaf Müller über das Gehirn im Tank -- eine Rezension (2. Teil)

Zum ersten Teil.

Weitere skeptische Ansätze und Gegenargumente (zum Kontextualismus z.B. 1, S. 63-72) werden gestreift. Kenner der Materie mögen sich hier wie zuweilen bei der Ausführlichkeit der Argumentation langweilen, können aber dank des vorbildlichen Inhaltsverzeichnisses und des übersichtlichen Gedankenganges leicht Abschnitte überspringen und dort einsteigen, wo es ihnen wieder interessant erscheint.

III Die Ziele von Müllers Studie (2): Die offene Frage, wenn der Skeptizismus widerlegt ist


Der zweite Band ist aus meiner Sicht der eigentlich reizvolle Teil der Untersuchung. Hier geht es Müller um das Unbehagen, das Putnams Beweis zurücklässt, weil er wörtlich von einem Gehirn im Tank wiederholt werden könnte, ohne dass die Wahrheit der Konklusion gefährdet wäre (2, S. 6). Müller diagnostiziert dieses Unbehagen als ein metaphysisches: Es bleibt, obwohl er den Skeptizismus mit Putnam widerlegt hat (sofern der Externalismus wahr ist). Um Erkenntnistheorie kann es dabei nicht gehen: Das Wissen eines Gehirns im Tank von seiner Welt ist genauso sicher wie unseres, das liegt an der vollen Disquotionalität seiner wie unserer Sprache (1, S. 78ff.). (Ähnlich Douglas C. Long: The self-defeating character of skepticism. In: Philosophy and phenomenological research 52 (1992), S. 67-84; David Chalmers, The Matrix as metaphysics (online, auch in: Christopher Grau (Hg.): Philosophers explore ‘The Matrix’. Cambridge: CUP 2005.) Das Gehirn im Tank hat einfach einen anderen metaphysischen Rahmen (2, S. 43).
Vielmehr geht es darum, ob bzw. wie wir über – mit Wittgenstein zu reden – ‘die Grenzen unserer Welt’ spekulieren können. Dafür bedient Müller sich eines einfachen Kunstgriffs. Statt „unsere“ Situation zu betrachten, analysiert er die eines Gehirns im Tank und dessen Versuche, seine Situation – die sich von uns aus, von außen, leicht fassen lässt – sprachlich zu beschreiben (2, S. 45 f.). Das metaphysische Unterfangen läuft also darauf hinaus, einem Gehirn im Tank die sprachlichen Mittel in die Hand zu geben, über seine eigene Situation etwas Weiterführendes zu sagen. Der Satz „Ich bin kein Gehirn im Tank“ erfüllt diese Forderung nicht, weil er gemäß der externalistischen Analyse trivialerweise wahr ist. Wie müsste ein weiterführender Satz lauten? Welche Ausdrucksmittel sind dafür nötig? Von außen können wir beurteilen, ob diese Mittel ihren Zweck erfüllen.

IV Was ist ‘Semantische Stabilität’?

Der Kern des Müllerschen Instrumentariums besteht im Begriff der „Semantischen Stabilität“, der entfaltet wird anhand einer Ebenen-Analyse: Seien wir die erste Ebene, Gehirne in Tanks in unserer Welt die zweite. Kommen in deren simulierter Welt wiederum Gehirne in Tanks vor, ist dies eine dritte, undsofort. Semantisch stabil ist ein Begriff, der in jeder dieser Ebenen dieselbe Bedeutung hat. Nicht stabile Wörter sind solche, die übersetzt werden müssen. Beispiel: Im Tankdeutschen bezeichnet das Wort „Tiger“ die Repräsentation im Supercomputer; im Deutschen bezeichnet das Wort „Tiger“ die Tiger. „Tiger“ ist nicht semantisch stabil. Zur Kennzeichnung wird das tankdeutsche Wort „Tiger“ ins Deutsche mit „Bit-Tiger“ übersetzt. Man sieht auf den ersten Blick, dass Bezeichnungen für materielle Gegenstände wie „Tiger“ im Tankdeutschen allesamt nicht semantisch stabil sind (2, S. 134ff.). Ebenso leicht ist zu sehen, dass logische Operatoren im Tankdeutschen genauso funktionieren wie im deutschen; es ist also unnötig, zwischen „und“ und „bit-und“ zu unterscheiden (2, S. 78ff.). Damit aber das Projekt „Ausdruck des metaphysischen Zweifels“ Erfolg haben kann, müssen auch informative Wörter semantisch stabil gemacht werden. Als geeignete identifiziert Müller schließlich die eingeführte künstliche Vorsilbe „bit-“ und ihr Gegenstück „über-“ (2, S. 196ff.). „Bit-“ bezieht sich immer auf die nächsttiefere Ebene, abhängig vom Ort des Sprechers, und wirkt demnach wie ein indexikalischer Ausdruck. „Vielleicht gibt es Bit-Katzen“ bedeutet also: „Vielleicht gibt es Katzen-Simulationen (im Simulationsprogramm eines Gehirns im Tank).“ Das Gegenstück „Über-“ erlaubt den umgekehrten Weg: Ein Gehirn im Tank kann mit „Vielleicht gibt es Über-Katzen“ auf die Welt außerhalb seines Computers -- unsere Welt -- referieren und über die Existenz von Katzen darin spekulieren. Dass es keine Möglichkeit hat, je die Frage „Gibt es Über-Katzen?“ zu entscheiden, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls ist damit das Ziel von Müllers Gedankengang erreicht, namentlich, das sprachliche Instrumentarium für den metaphysischen Zweifel zu entwickeln.

V Schneller zum (anderen) Ziel – ist der Externalismus wahr?

Nach der Lektüre der rund 200 Seiten, die Müller darauf verwendet, fragt man sich, ob das Ziel nicht auch schneller und weniger aufwendig hätte erreicht werden können. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dem so ist, weil mir Müller die Pointe des diagnostizierten metaphysischen Unbehagens zu verkennen scheint. Putnams Beweis zeigt nicht, dass wir keine Gehirne im Tank sind, sondern dass wir nicht darüber reden können – sofern der Externalismus wahr ist. Das Unbehagen rührt aus dem Missverhältnis zwischen dem anscheinend einwandfreien Beweis und der Tatsache, dass wir die Geschichte vom Gehirn im Tank gut genug verstehen, um zu wissen, was damit gemeint ist. Das trifft auch Müllers Untersuchung. Hätte Putnam recht, worum geht es dann in seinem Buch? Dass wir die Ausgangsfrage verstehen, zeigt, dass wir wissen, was ein Gehirn im Tank ist, und darüber reden können, ganz ohne „Bit-Gehirne“ und „Über-Katzen“. Entsprechend verstehen wir die Möglichkeit, ein Gehirn im Tank zu sein (ich habe dieses Argument ausführlicher dargestellt in: Joachim Eberhardt: Gehirne in Tanks : warum die skeptische Frage offen bleibt. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 58 (2004), S. 559-571).
Warum ist das so? Es liegt daran, dass das Gedankenexperiment selbst bereits zwei Ebenen umfasst: die des Gehirns im Tank und die des Wissenschaftlers, der das Gehirn versorgt. Müllers Untersuchung der Möglichkeit, eine sprachliche Beziehung zwischen diesen beiden Ebenen herzustellen, beschränkt sich auf die Innenperspektive: auf die Sicht des Gehirns im Tank und auf die Sicht des Wissenschaftlers. Dafür braucht er die Vorsilben „Bit-“ und „Über-“. Aber wir blicken im Gedankenexperiment auf beide von außen. Unsere Sprache enthält das Instrumentarium schon, die Beziehung zwischen beiden zu beschreiben, und dabei kommt man ohne den Begriff der „semantischen Stabilität“ aus. Das einzige, was man benötigt, ist die Analogie. Müller streift Analogien kurz in seinen Überlegungen (2, S. 123 ff.), ohne zu bemerken, dass sie, gewissermaßen, eine Abkürzung zu seinem Ziel bieten. Müllers Umweg hat mit dem Externalismus zu tun. Er mag eine leistungsfähige Theorie der Bedeutung sein; aber er allein erklärt längst nicht alle Typen von Sprachverwendung. Zum Beispiel sind Metaphern und Analogien ebenfalls Möglichkeiten, über die Welt zu reden und sich auf sie zu beziehen. Darum liegt ein Fehler in Putnams Beweis (in der Fassung von Wright in der Verbesserung von Müller) darin, sich mit dem Externalismus zu begnügen. Deutlich ist das an der vereinfachenden Gegenüberstellung von Externalismus auf der einen, „magischer“ Theorie des Bezeichnens auf der anderen Seite (1, S. 109 u.ö.). Sieht man die Sache so, gibt es keine vernünftige Alternative zum Externalismus. Aber man sollte sie nicht so sehen. Hier hätte ich gern ebenfalls Müllers klares Denken und seine geduldig-gründliche Argumentation am Werk erlebt.

VI Fazit

Das Gedankenexperiment vom Gehirn im Tank scheint vom Skeptizismus zu handeln. In Wirklichkeit handelt es von unserer metaphysischen Situation, meint Müller und lenkt damit unsere Aufmerksamkeit auf einen insbesondere in der analytischen Philosophie lange vernachlässigten Bereich (diese Metaphysik hat einen deutlich weiteren Umfang als P. F. Strawsons Projekt einer „deskriptiven Metaphysik“). Auch wenn mir seine Schlussfolgerung unvollständig zu sein scheint, ist das ein Gewinn.

Wie sich Religion und Analytische Philosophie vertragen

Dass man gleichzeitig an Gott glauben und Philosoph sein kann, war früher nix besonderes -- man denke nur an die philosophischen Systeme, die Gott voraussetzen, wie die von Descartes, Leibniz oder Bischof Berkeley. Heutzutage ist das vielleicht nicht mehr ganz so selbstverständlich, und so tendieren einige, die ich kenne, dazu, per Autorität zu begründen: Wenn z.B. für Hilary Putnam Glaube und Philosophie vereinbar sind (vgl. diese Rezension von ihm, 4.letzter Absatz), dann doch für mich (kleines philosophisches Licht) erst recht.
Wer nicht ganz so viel auf die Autorität und mehr aufs Selberdenken geben möchte, findet ein paar Anregungen dazu in dem neuen Sammelband Faith and philosophical analysis : the impact of analytical philosophy on the philosophy of religion, hg. von Harriet A. Harris und Christopher J. Insole (hier eine Rezension von Benjamin Murphy im Online-Journal für Religionsphilosophie, Ars disputandi).

Spüren Tiere Schmerzen? Haben sie Bewusstsein?

Seit 2002 hat der Tierschutz in Deutschland Verfassungsrang (Art. 20a GG). Wer einem Tier "ohne vernünftigen Grund" Schmerzen zufügt, macht sich strafbar (Tierschutzgesetz). Für den Philosophen entstehen zwei Fragen: 1. Was ist ein "vernünftiger Grund"? 2. Spüren Tiere Schmerzen bzw. in welcher Weise spüren Tiere Schmerzen? Für manche ist die zweite Frage schon entschieden. Aber so einfach ist sie gar nicht zu beantworten -- zumal für Philosophen, die schon mit dem menschlichen Fremdpsychischen Probleme haben...
Wittgenstein hat, denke ich, viele Einsichten zur Sprache gebracht, die uns sonst unausgesprochen leiten. So etwa seine Rede vom "Schmerzbenehmen" (1, 2), an dem wir das erkennen können, was im andern vorgeht. Auch wer zugibt, dass Tiere Schmerzbenehmen zeigen, kann noch im Zweifel darüber sein, ob sie den Schmerz so erleben wie wir: ob sie das nötige Bewusstsein haben. Thorsten Galert geht in Vom Schmerz der Tiere : Grundlagenprobleme der Erforschung tierischen Bewusstseins (Paderborn: Mentis, 2005) diesen Fragen nach: eine interessante Untersuchung auch darum, weil sie sich dem Problem des Fremdpsychischen von ungewöhnlicher Seite nähert.

01 Dezember 2005

Olaf Müller über das Gehirn im Tank -- eine Rezension (1. Teil)

Olaf Müller: Wirklichkeit ohne Illusionen. Paderborn: Mentis 2003.
Band 1: Hilary Putnam und der Abschied vom Skeptizismus oder Warum die Welt keine Computersimulation sein kann. 240 S. Kart. EUR (D) 36,-.
ISBN 3-89785-280-1.

Band 2: Metaphysik und semantische Stabilität oder Was es heisst, nach höheren Wirklichkeiten zu fragen. 278 S.. Kart. EUR (D) 36,-.
ISBN 3-89785-281-0.

I Gedankenexperimente sind attraktiv

Gedankenexperimente haben Konjunktur in der Philosophie. Das ist abzulesen an einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen in jüngerer Zeit.
Auch in den Vorlesungsverzeichnissen ist das Thema, wie eine Google-Recherche leicht zeigt, vermehrt präsent. Möglicherweise liegt das daran, dass sich Gedankenexperimente für die Propädeutik, die Einführung in das philosophische Denken, gut eignen.
Eines der prominentesten Gedankenexperimente in diesem Sinne ist das vom ‘Gehirn im Tank’. Es wurde erfunden, um den Skeptizismus in ein modernes Gewand zu kleiden, ist aber erst nachgerade prominent geworden durch Hilary Putnams Versuch der Widerlegung (Hilary Putnam: Reason, truth and history. Cambridge: CUP, 1981, Kap. 1).
Putnams Argument beruhte auf der Entdeckung, dass der semantische oder Content-Externalismus, den er zuerst mit dem Twin-Earth-Gedankenexperiment in The meaning of meaning (1975) vortrug, erkenntnistheoretische Konsequenzen hat. Die Argumentation ist nicht ganz einfach, zumal Putnam seinen Kerngedanken etwas versteckte, und hat zu einer wahren Literaturflut – zustimmend wie ablehnend – geführt. Olaf L. Müller gelingt es im ersten Teil seiner zweiteiligen Habilitationsschrift Wirklichkeit ohne Illusionen, hier Klarheit zu schaffen, indem er das Argument rekonstruiert und seine Lücken abdichtet. Im zweiten Teil unternimmt er es, dem metaphysischen Unbehagen auf den Grund zu gehen, das Putnams Beweis zurücklässt.

II Die Ziele von Müllers Studie (1): Putnams Beweis wird wasserdicht

Müller hat in Göttingen und Los Angeles Philosophie und Mathematik studiert und dann unter anderem in Göttingen, Harvard und München unterrichtet; seit 2003 lehrt er Wissenschaftstheorie an der Humboldt-Universität in Berlin. Bereits in seiner Dissertation hatte er sich mit dem Skeptizismus beschäftigt, und zwar in der Gestalt von Quines semantischer Formulierung (Olaf Müller: Synonymie und Analytizität : zwei sinnvolle Begriffe. Paderborn: Schöningh 1998).
Sein Interesse am Gehirn im Tank und Putnams Gegenargument geht auf eine persönliche Begegnung beim 1. Göttinger philosophischen Kolloquium 1994 zurück. Auf zwei Ziele arbeitet Müller hin:
1. Der erkenntnistheoretische Skeptizismus lässt sich nicht halten.
2. Das Unbehagen, das zurückbleibt, wenn der Skeptizismus widerlegt ist, ist ein metaphysisches Unbehagen, welches die Philosophie ernst nehmen und dem sie zum Ausdruck verhelfen muss.
Im Groben sind diesen beiden Zielen die beiden Bände der Untersuchung gewidmet. Doch im einzelnen: Im ersten Band beschäftigt sich Müller vor allem mit Putnams Gegenargument gegen den Skeptizismus (in der Fassung von Crispin Wright, 1,75). Bekanntermaßen läuft die Argumentation etwa so:
A. In meiner Sprache bezeichnet das Wort „Tiger“ die Tiger.
B. In der Sprache eines Gehirns im Tank bezeichnet das Wort „Tiger“ nicht die Tiger.
C. Also unterscheidet sich meine Sprache von der eines Gehirns im Tank.
D. Also bin ich kein Gehirn im Tank.
Müllers Aufmerksamkeit gilt zwei Lücken dieses Beweises.
1. Der Beweis beruht darauf, dass sich „meine“ Sprache von der eines Gehirns im Tank unterscheidet. Die externalistische Begründung dafür: die Sprachen unterscheiden sich, weil das gleiche Wort sich auf Unterschiedliches bezieht. Doch das allein, ist einzuwenden, ist kein hinreichendes Unterscheidungsmerkmal; es gilt ja z.B. für indexikalische Ausdrücke auch (1, S. 147). Immerhin: der Beweis braucht den Rekurs auf verschiedene Sprachen gar nicht – die Unterscheidung z.B. der Äußerungskontexte genügt. Befindet man sich nicht im gleichen Kontext wie ein Gehirn im Tank, wenn man „Tiger“ sagt (egal was man damit sagt), dann ist man auch kein Gehirn im Tank (1, S. 158).
2. Der Beweis setzt in den Prämissen A und B voraus, dass es Tiger gibt. Statt Tiger verwende man das Wort „Gehirn“ und beginne mit der Fallunterscheidung: Entweder gibt es Gehirne oder nicht. Falls es Gehirne gibt, gilt der Beweis, falls es keine gibt, kann man auch kein Gehirn im Tank sein (1, S. 181). Damit ist Putnams Beweis „wasserdicht“, sofern der Externalismus wahr ist – eine für Müller nicht allzugroße Hypothek. Sein Plädoyer für den Externalismus als Theorie der Bedeutung führt zugleich in dessen Konsequenzen ein (Hilary Putnam, Tyler Burge u.a., 1, S. 106ff.)

Exkurs: Der semantische Externalismus ist eine Theorie, die durch Gedankenexperimente bekannt geworden ist – neben Hilary Putnams Twin Earth (s.o.) vor allem durch Tyler Burges Arthritis-Gedankenexperiment in Individualism and the mental (1979). Vgl. dazu Mark Rowland: Externalism : putting mind and world back together again. Chesham: Acumen 2003, S. 97-122. — Müllers Einführung ist auf die Kernelemente beschränkt; er streift nur am Rande den Zusammenhang von Erster Person und Externalismus (2, S. 5 f.), vgl. dazu die gesammelten Aufsätze in: Susana Nuccetelli (Hg.): New essays on semantic externalism and self-knowledge. Cambridge, Mass.: MIT Press 2003. Ende Exkurs.

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