Dass nach Grass' Bekenntnis er sei als 17jähriger Mitglied der Waffen-SS gewesen, die Öffentlichkeit aufschreien würde, erstaunt nicht. Was hier in Anschlag gebracht wird, ist das augenscheinliche Missverhältnis zwischen Tun und Empfehlen. Grass gibt (gab) sich als moralische Autorität, hat aber selbst in der Jugend gesündigt. Wie soll man dazu stehen?
Nicht so wie Martin Walser jedenfalls. Der beobachtet zwar richtig das Reflexhafte der Reaktionen, das scheint ihm aber zu genügen: eine ihrerseits oberflächliche Antwort (wahrscheinlich freut sich Walser einfach, das er mal Grass an die Seite treten kann).
Grass' SS-Vergangenheit scheint von manchen als persönliche Kränkung erlebt zu werden, die seine moralische Autorität schätzten. Sie sind beleidigt, weil sie ihm geglaubt oder seinen Äußerungen früher einen besonderen Stellenwert eingeräumt haben. Spiegel online
zitiert Joachim Fest mit der Äußerung, er wolle von Grass nun nicht einmal mehr einen Gebrauchtwagen kaufen. (Ja, das zeigt, dass Grass wirklich als moralische Instanz diskreditiert ist, wenn man nun nicht einmal mehr einen Gebrauchtwagen von ihm kaufen kann.)
Und moralische Autorität, stellt sich heraus, besteht nicht etwa darin, dass man das Richtige sagt, fordert, empfiehlt. Sondern darin, dies schon immer und unveränderlich als das Richtige erkannt zu haben. Damit führt die moralische Autorität in eine religiöse Dimension, weil sie ein Verhaltensmuster erlaubt, das auch im Umgang mit göttlichen Geboten erwünscht ist: die unreflektierte Übernahme.
Jetzt fordert Grass' Bekenntnis zur Reflexion seiner Äußerungen heraus. Stimmen sie noch? Müssen wir jetzt genauer hinsehen? Wie unbequem!
Ein zweites religiöses Deutungsmuster zeigt sich: Vorher war Grass ein
Heiliger, Nobelpreis und Ehrenbürgerwürde von Danzig sind die äußeren Zeichen. (Soll Grass beides zurückgeben? Vielleicht äußert er sich dazu noch öffentlich. Sein eigenes moralisches Empfinden beschäftigt sich bestimmt damit.) Dass Heilige (wie z.B. Aurelius Augustinus) Sünder gewesen sein können, bevor sie Anhänger der 'richtigen Moral' wurden, deutet vor allem auf den etablierten Weg vom einen Status zum anderen: man darf nicht heimlich zum Heiligen werden, sich nicht selbst taufen, nicht für sich abschwören. Alle müssen mitkriegen, ab wann man moralisch untadelig leben möchte.