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28 Februar 2006

Wittgenstein und Judentum

Ranjit Chatterjee schreibt darüber in seinem neuen Buch Wittgenstein and Judaism : a triumph of concealment (Lang 2005). "This radical new reading suggests that Wittgenstein is best understood as a covert Jewish thinker in times of lethal anti-Semitism." Wittgenstein habe "talmudic and rabbinic modes of thought" internalisiert. Leider kann ich nicht beurteilen, ob der Tractatus oder die Philosophischen Untersuchungen einer talmudischen oder rabbinischen Denkweise entsprechen. Hier gibts eine Rezension von etwas berufenerer Seite.

27 Februar 2006

Möglichst breite Ansätze

Möchten Sie ein Buch lesen, dass solche verspricht? Es heißt Bunte Vertiefungen : ein geistiges Weltbild und stammt von Reinhard Wieltschnig, erschienen im Gleit Verlag. Ich zitiere aus dem Klappentext; aus Versehen habe ich das für Philosophie gehalten:
Ziel sind möglichst breite Ansätze, sei es mit Blick auf die Welt oder in der Hinwendung zu wesentlichen Fragen. Das stützt jeden, der nicht nur sein eigenes Leben ergründen will, sondern auch auf Gott, die ganz tiefe Vergangenheit, das gegenwärtige Sein und die Zukunft eingehen will. Das sichert dem Werk in der Literatur für geistiges Leben einen hervorragenden Platz. Es wird zum wertvollen Geschenk, auch an sich. Ihr Motto: Jetzt aber (wieder) einmal was ganz Feines, etwas mit Tiefgang. Ob das eine oder das andere, Sie möchten keine alltägliche Leberwurst erstehen.
In verblüffend anschaulicher Weise wird man mit sich selbst und darüber hinaus mit vielen Urgründen bekannt. Sie berühren in diesem neuen Renner tiefste Anschauungen. Die Vertrautheit mit ihnen ermöglicht es, verborgenen Zusammenänge erkennen zu können, die in ihrer Bedeutung viel wesentlicher sind, als es im ersten Augenblick erscheinen mag. Der Leser stellt dann nicht unberechtigt fest, dass mit Hilfe innerer Einstellung bei der Bewältigung von Schwierigkeiten wichtige Unterstützung erfahren ist.
Das ist der Klappentext. Ist Ihnen auch schon mal aufgefallen, dass Pseudophilosophie häufig in schlechtem Stil vorgetragen wird?

26 Februar 2006

Wie altruistisch ist die Welt?

Zumindest für US-Amerikaner gibts jetzt eine empirische Studie (pdf). Tom W. Smith von der Universität in Chicago stellt die Ergebnisse vor.
The survey found wide support for altruistic love on a number of items, and also noted that there was a significant connection between altruistic behavior and romantic love. Additionally, the report noted that religion plays a role in promoting altruism. Some of the other findings of the study included the observations that women have a greater feeling of empathy than men and that financial status had very little to do with feelings of altruism or empathy.
So fasst der Scout Report dieser Woche das Ergebnis zusammen. Es fragt sich noch, wie der Zusammenhang zwischen dem "Gefühl" des Altruismus und der altruistischen Handlung ist. Obs da auch einen Zusammenhang gibt mit der Religion, oder mit dem eigenen Einkommen?

25 Februar 2006

Tagging, Schlagworte und anderes

Entschuldigung, mspro, dass ich Ihr Posting in TIEF nicht mehr wiedergefunden hab, der mich auf Clay Shirkys Ontology is overrated brachte. Shirky vertritt dort die These, dass für die Ordnung im Web das Tagging der klassischen sachlichen Erschließung durch Schlagwörter (kontrolliertes Vokabular) und Klassifikation (hierarchischer Zugang) überlegen sei. Yahoos Directory ist ein Beispiel für einen solchen klassifikatorischen Zugang. Shirky bemängelt, dass man dort den Eindruck habe, die Yahoo-Leute wüssten immer besser, wo eine bestimmte Sache hingehört, also in welchen Zusammenhang. Und dass die Klassifikationsentscheidungen in vielen Systemen fragwürdig seien, etwa wenn in Dewey die Christliche Religion 8 von 9 der oberen Kategorien bekommt, die übrigen quetschen sich in "other religions". Gegenüber den kontrollierten Vokabularen von Schlagwörtern und Thesauri meint er, dass semantische Unterschiede verwischt würden. "Film", "Cinema": wenn unterschiedliche Leute diese Begriffe verwenden würden, dann würden sie auch damit etwas unterschiedliches meinen.
Aus bibliothekarischer Perspektive hat Shirky zum Teil recht. Die Kritik an den Klassifikationen ist richtig, und das wird ja auch bei denjenigen, die sie benutzen, selbst so gesehen. Und es stimmt, dass die Dewey Decimal Classification entwickelt wurde, um Bücher im Regal aufzustellen. Eine Klassifikation für Medien im Web bräuchte darauf ja keine Rücksicht zu nehmen. Was die Überlegenheit des Tagging vor dem Verschlagworten angeht, so kann man das natürlich nur ernsthaft vertreten, wenn auch bei den jeweils individuellen Tagging-Varianten die Treffermenge noch so gr0ß ist, dass damit ein Nutzer weiterkommt. Tags begegnet man ja in zwei Varianten. Auf einer individuellen Webseite, mit den individuellen Tags des Seitenbesitzers, hat man keine Mühe, aus der Liste der Tags auch deren Bedeutung abzuleiten. Die ergibt sich einfach aus ihrer Nachbarschaft. In Kontexten wie den allgemeinen Seiten von del.icio.us, wo man nur die Tags sieht und durch Anklicken eine Liste der Seiten bekommt, auf denen sie verwendet werden, scheint mir das eine ziemlich nutzlose Sache zu sein. Da wünsche ich mir ein kontrolliertes Vokabular (und die Verwendungsregeln), weil es eine größere Genauigkeit ermöglicht. Ich halte es zwar für möglich, dass bei verwandten Begriffen die Wahl des einen oder anderen als Tag etwas über die Präferenzen des Taggenden aussagt; aber wahrscheinlicher hat es andere Gründe, kann z.B. daran liegen, dass die sprachlichen Fertigkeiten des Nutzers beschränkt sind (etwa weil er englisch taggt, um mehr Publikum zu erreichen, aber eine andere Muttersprache hat). Tagging ist eine Art der Erschließung, die besser ist als gar keine. Sie kann die Suche per -Maschine ergänzen, indem sie Begriffe hervorhebt, die auf der fraglichen Seite vorkommen, oder neue ins Spiel bringt. Sie eignet sich vor allem da, wo es nicht so sehr auf die Qualität der getaggten Links ankommt, oder wo die individuelle Verwendung von Tags nachvollziebar ist.

22 Februar 2006

Die hässlichen Empfindungen

Friedhelm Decher nimmt in schöner Regelmäßigkeit Themen unter die philosophische Lupe, die jedem bekannt sind und gerade darum der Reflexion bedürfen. Das neueste Werk -- nach solchen zur Langeweile, zur Verzweiflung oder zum Selbstmord -- gilt dem Neid, von Decher "das gelbe Monster" genannt. Neben der philosophiehistorisch beschlagenen Geschichte des Nachdenkens über den Neid bietet Decher auch -- praktischer Philosoph, der er ist -- etwas für die Frage, wie man mit ihm zurechtkommen könnte.

21 Februar 2006

Geschichten der spanischen Philosophie ...

gibt es nicht so viele; ein "Panorama" derselben im 20. Jahrhundert bietet Armando Savignano in seinem neuen Buch Panorama della filosopfia spagnola del novecento (Marietti, 2005). Die Kapitel gelten Machado, Unamuno, der katalanischen Philosophie, Santayana, Ruibal und anderen; natürlich kommt auch Zubiri drin vor. Ein besonderes Kapitel ist der Philosophie zu Francos Zeit gewidmet. Jedes Kapitel ist um bibliographische Angaben ergänzt. Auf deutsch scheint's was ähnliches nicht zu geben, also muss man schon auf einem anderen Teller sein, um über den Tellerrand zu blicken?

20 Februar 2006

Bild und Wissenschaft

Es gibt ja die Zeitschrift Bild der Wissenschaft, wobei ich mir nicht helfen kann; ich muss unwillkürlich an "Bild dir deine Meinung" denken. Auf die will ich aber nicht hinweisen, sondern auf den interessanten, von Martina Heßler herausgegebenen Sammelband Konstruierte Sichtbarkeiten : Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit. Und weil Bernd Blaschke dazu schon eine Rezension verfasst hat, brauche ich hier weiter nichts zu sagen, außer, dass das Buch aufwendig gemacht ist, mit gutem Papier für die Bilder, und dass die 'Bilder', um die es geht, nicht nur beschrieben werden, sondern auch und vor allem die Bildindienstnahme bedacht wird. Ein letzter Aufsatz widmet sich zudem der Kritik an den Bildern von wissenschaftlicher Seite.

16 Februar 2006

Giordano Bruno und die Urzelle

Da habe ich mich über das Buch im Ancient Mail Verlag lustig gemacht und damit gleich einen neuen Leser gewonnen! Weil Dieter Vogls Kommentar zu meinem Posting vermutlich sonst von niemandem gelesen würde, weise ich hier noch einmal extra darauf hin: achten Sie auf den Kommentar :-)!

15 Februar 2006

Moral und Politik: Dürfen von Terroristen gekaperte Flugzeuge abgeschossen werden?

Das Verfassungsgericht sagt, das Gesetz von 2005 sei verfassungswidrig, berichtet Spiegel Online heute. Und zwar, weil das gegen das Gebot verstößt, dass die Bundeswehr nicht im Innern zum Einsatz kommen dürfe (außer im Katastrophenfall). Außerdem hat es auch was mit der Menschenwürde zu tun: Menschen, die zur Rettung anderer getötet würden, würden "verdinglicht und entrechtlicht".
Politiker reagieren auf die Begründung Bundeswehreinsatz mit der Forderung nach einer Grundgesetzänderung, schließlich will man die Bundeswehr am liebsten auch zur Fußballweltmeisterschaft im Innern einsetzen. Grundgesetzänderung in 3 Monaten?
Was die Frage angeht, wie das Abwägen der Leben einzelner gegen viele zu behandeln ist, so ist die Frage verwandt mit der nach der Erlaubtheit von Folter zur Terror-Abwehr. Interessant ist hier für mich die Frage, ob Recht und Moral verschiedene Wege gehen müssen. Es erinnert auch an das alte Gedankenexperiment von Philippa Foot, das "Trolley Problem" und Judith Jarvis Thomsons Ergänzungen dazu über die Schwierigkeit, Töten und Sterben lassen zu unterscheiden.

09 Februar 2006

Philosophie des Lehrens und Lernens

Ich hoffe, dass auch der eine oder andere Philosophie-Lehrer hin und wieder einen Blick in diese Seiten wirft... Gerade liegt mir das Mai-Heft des Journal of Philosophy of Education vor; es ist eine Sonderausgabe, die ganz das Werk Philosophy of the Teacher von Nigel Tubbs enthält. Ich zitiere aus der Einleitung:
But let me ask finally: who will want a philosophy of the teacher as it is presented here? The answer, I hope, is any teacher who feels, deep down, that there are educational truths in what they are doing that remain unrecognised not only within their schools, colleges or universities, but also within the theoretical perspectives that are designed to serve such work. I know now that, when I was training to be a teacher, I needed a philosophy of the teacher that could speak from within my own difficulties with theory and practice, with control and authority, and with the teacher–student relationship—the kinds of anxieties that, at some time, are common to all teachers. But in educational work on the teacher I found no real philosophy (that is, no real speculative philosophy, as I shall come to explain), and in philosophy there was very little interest in education in general or in the teacher in particular. Perhaps this book will find others now who are searching for the same thing, even if, as yet, they do not know it quite in this way.

Gesamte Inhaltsangabe hier.

Und wenn man schon mal dabei ist, kann man auch noch auf den Aufsatz von Wilfried Carr im gleichen Journal, Februar 2004 hinweisen: Philosophy and Education. Der Abstract:
This paper argues that the anxieties being expressed in the UK and elsewhere about the lack of impact that philosophy now has on education are nothing other than the inevitable manifestation of a fundamental intellectual disorder deeply rooted in our contemporary understanding of the philosophy of education. In trying to substantiate this claim, the paper offers an historically informed philosophical analysis of how philosophy is related to education and education to philosophy that concludes by clarifying how any debates about the current problems and future development of the philosophy of education ought to proceed.

Heilmittel gegen Akrasie gefunden!

Anzeige als pdf -- vertrauen Sie Dr. Sorensen.

Grad gefunden -- eine nette Version von Gideons Paradox (das ist beschrieben in Marion Ledwigs Dissertation über Newcombs Paradox, S. 83 (pdf)). Auch abgedruckt im grad erschienenen Sammelband Willensschwäche, herausgegeben von Thomas Spitzley bei mentis.

08 Februar 2006

Kampf der Kulturen?

Die Auseinandersetzungum die Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Tageszeitung und deren Nachdrucke "aus Solidarität" in weiteren Zeitungen und Zeitschriften könnte eine ganze Reihe von bedenkenwerten Fragen aufwerfen:
Gelten islamische Gebote auch für uns? Können die von uns verlangen, dass wir uns an ihre Gebote halten? -- Dies vor dem Hintergrund, dass es nicht nur (aber auch) um die Verletzung religiöser Gefühle zu gehen scheint. Letzteres ist eine verständliche, kaum zu kritisierende Vorstellung, für die man sich, um sich an die eigene Nase zu fassen, hier nur an die Debatten um Scorseses Die letzte Versuchung oder früher Monty Pythons Das Leben des Brian zu erinnern braucht. Da stören dann nur mehr die mit diesem Gefühl begründeten angedrohten Handlungen. Aber es scheint auch die schlichte Verletzung eines religiösen Gebots in der Argumentation eine Rolle zu spielen. Also: Gelten deren Gebote auch für uns? Könnte ein Moslem konsistenterweise darüber wütend sein, dass ein Christ Mohammed malt? Wie verträgt sich das islamische Bilderverbot mit der Tatsache, dass es haufenweise islamische Abbildungen Mohammeds gibt? Im Netz sind schöne Beispielsammlungen zu finden. In dieser hier sieht man zudem, dass Christen das Gebot schon früher verletzt haben. So könnte man auf die Idee kommen zu fragen, wie gerade jetzt etwas verboten sein kann, was wir immer schon gemacht haben (Gewohnheitsrecht!). So gibt es zahlreiche italienische Kirchen, die das Programm ihrer Fresken Dantes Göttlicher Komödie entnehmen, deshalb auch einige, wo zu sehen ist, wie Mohammed als "falscher Prophet" in der Hölle von Teufeln gequält wird. Dass wir im Umgang mit einem solchen Bilderverbot wenig sensibel sind, ist klar, wir halten uns ja nicht mal an das eigene (vgl. die Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle).
In der oben zitierten Bildersammlung ist auch ein Bild eines islamischen "Künstlers" vom jungen Mohammed; offenbar zugelassen von einem moslemischen Geistlichen, weil es den Propheten vor seiner Berufung darstellt. (Mit solchen Argumentationsformen haben wir auch Erfahrung; nicht umsonst spricht man von "jesuitischen " Argumenten.)
Geht es bei uns um die Meinungs(äußerungs)freiheit, die von der dänischen Tageszeitung ins Feld geführt wurde? Oder um die Freiheit der Kunst? Oder um die Gestaltung des säkularen Staats? Vielleicht geht es auch bloß um die politische Indienstnahme des Unmuts durch Medien und Meinungsführer. Kennen wir nicht?

Unsere liebe Bildzeitung titelte neulich, Sabine Christiansen und ihr Lebenspartner hätten sich getrennt. Am nächsten Tag titelte Bild "Das ist seine Neue". Der unbedarfte Leser könnte auf die Idee kommen, dass Christiansens Ex-Freund, ein Tag, nachdem die sich getrennt haben, schon wieder eine neue Freundin hat. Promiskuität! Unmoralisch! OK, das ist keine politische Indienstnahme, nur eine ökonomische.

07 Februar 2006

Foltern um zu retten? Der argumentative Gebrauch von Gedankenexperimenten

Wie überzeugend sind Gedankenexperimente in der Ethik? Aus mehr oder weniger aktuellem Anlass schrieb Michael Kinsley in Slate Mitte Dezember eine durchdachte Auseinandersetzung mit Charles Krauthammers Wiederbelebung des "Folter einen, rette viele"-Gedankenexperiments (gefunden via Patrick Baums Weblog Philosophus). Die moralische Frage ist hier im Zusammenhang eines möglichen US-Gesetzes zu sehen, es geht also eigentlich darum, ob ein Gesetz Folter verbieten oder erlauben oder mit welchen Restriktionen erlauben sollte. Kinsleys Schlussgedanke begegnet auch in der Auseinandersetzung mit ethischen Gedankenexperimenten, nämlich: Spezielle Fälle sind kein guter Ratgeber beim Test unser moralischen Intuitionen, und sie zeigen nicht, dass das jeweilge moralische System fehlerhaft ist, wenn es damit nicht klarkommt. Kinsley im O-Ton:

There is yet another law-school bromide: "Hard cases make bad law." It means that divining a general policy from statistical oddballs is a mistake. Better to have a policy that works generally and just live with a troublesome result in the oddball case. And we do this in many situations. For example, criminals go free every day because of trial rules and civil liberties designed to protect the innocent. We live with it.

Of course a million deaths is hard to shrug off as a price worth paying for the principle that we don't torture people. But college dorm what-ifs like this one share a flaw: They posit certainty (about what you know and what will happen if you do this or that). And uncertainty is not only much more common in real life: It is the generally unspoken assumption behind civil liberties, rules of criminal procedure, and much else that conservatives find sentimental and irritating.

Sure, if we could know the present and predict the future with certainty, we could torture only people who deserve it. Not just that: We could go door-to-door killing people before they kill others. We could lock up innocent people who would otherwise be involved in fatal traffic accidents. Civil libertarians like to believe that criminals get their Miranda warnings and dissidents enjoy freedom of speech because human rights are universal. But if we knew for sure that a newspaper column by Charles Krauthammer would lead—even by a chain of events he never intended and bore no responsibility for—to World War II, wouldn't we be nuts not to censor it? Universal human rights would make no sense in a world where everything was known and certain.

This is not to say that Krauthammer's killer hypothetical could never happen. It is to say that morality does not require us to build a general policy on torture around a situation that is not merely unlikely in real life, but different in kind from the situations we are likely to face in real life. What we would do or should do if this situation actually arose is an interesting question for bull sessions in the dorm, but not a pressing issue for the nation.

02 Februar 2006

Neues aus der alten Welt

Georgi Kapriev hat eine Philosophie in Byzanz verfasst. Das ist an sich schon bemerkenswert, weil es keinen umfassenden Überblick über diesen Raum gibt, der ist bislang philosophiegeschichtlich tote Hose. Und es ist bemerkenswert, weil ein gutes Buch daraus geworden ist, das das Überlappen von Philosophie und Theologie bis 1453, dem Ende von Byzanz, beleuchtet.

01 Februar 2006

Evangelische Kirche und Sterbehilfe

Die EKD ist gegen aktive Sterbehilfe, und das war sie schon immer. Auf ihrer Website kann man ältere Erklärungen nachlesen. Dort heißt es zum Beispiel -- aus einer gemeinsamen Erklärung der EKD und der Katholischen Bischofskonferenz von 2003 --:
Aktive Sterbehilfe ist und bleibt eine ethisch nicht vertretbare, gezielte Tötung eines Menschen in seiner letzten Lebensphase, auch wenn sie auf seinen ausdrücklichen, verzweifelten Wunsch hin erfolgt. Wir wissen, wohin es führen kann, wenn Menschen von Dritten für nicht mehr lebenswert erklärt werden, statt in ihrer Schwäche, Krankheit oder Behinderung als Menschen akzeptiert und nach ihren Bedürfnissen umsorgt zu werden.
Die derzeitige Diskussion um die aktive Sterbehilfe ist in Deutschland beeinflusst durch die Erfahrungen der Vergangenheit (Gesetzgebung und mörderische Praxis der Nazizeit), die uns sensibel machen gegen jede Form von Ausgrenzung, Aussortierung und Vernichtung anhand scheinbar objektivierbarer Kriterien. Wir wenden uns gegen alle Aussagen, die das Leben von Menschen als „nicht mehr lohnend“ oder „nicht mehr lebenswert“ abqualifizieren. Wir verweisen demgegenüber auf die Kostbarkeit jedes einzelnen Menschen und die unabdingbare Würde jeder einzelnen Person.
Man sieht leicht, dass hier überhaupt kein Argument vorliegt, sondern lediglich eine Behauptung: xy "ist und bleibt ethisch nicht vertretbar". Woher kommt diese Gewissheit?
Der Text der Erklärung offenbart, wovon die moralische Überlegung ihren Ausgang nimmt: nämlich davon, was wir tun, tun oder unterlassen sollen. Im Unterschied zu dem, was derjenige tut, der sich zu sterben wünscht. Das jemand zu sterben wünschen kann, und sogar "ausdrücklich und verzweifelt", spielt gar keine Rolle.
Nein, die Vertreter der Kirchen haben die deutsche Vergangenheit und die Euthanasiepraxis der Nazis vor Augen. Und sie blicken mit Sorge auf ökonomische Zwänge der medizinischen Versorgung. Schließlich denken sie wohl auch noch an die Schwäche der Angehörigen, für die die Sterbebegleitung beim langsamen Sterben durchaus eine Überforderung darstellen kann. Sie blicken also auf die Parteien, die etwas mit dem Sterbenden machen können, und denen wollen sie es verbieten. Das ist, finde ich, ganz in Ordnung. Die Argumentation mit der Würde desjenigen, der da sterbend liegt, auch.
Aber gerade der Bezug auf die Würde müsste doch auch die Überlegung eröffnen, ob wir nicht moralisch gefordert sind, seine Wünsche ernst zu nehmen. Und wenn jemand "ausdrücklich und verzweifelt" zu sterben wünscht, wer sind wir, dem zu widersprechen? Würde hat doch auch mit der Möglichkeit der Selbstbestimmung zu tun. Mir scheint, dass die kirchlichen Sprecher zwei Dinge miteinander in einen Topf werfen, die besser getrennt blieben. Das eine sind die gesellschaftlichen Bedingungen des Sterbens, und die sollten, natürlich, so gut wie möglich sein. Wirtschaftliche Überlegungen o.ä. sollten keine Rolle spielen. Und das andere ist die Selbstbestimmung des Betroffenen. Eine "Hilfe", wie in dem Wort "Sterbehilfe" enthalten, ist wohlverstanden schließlich immer etwas, was auf Verlangen des Geholfenen erfolgt -- ein anderes Verständnis von Hilfe entmündigt und ist zynisch. Die Kirchen wehren sich gegen die Tendenz zur Entmündigung, aber dem eigentlichen Verständnis zur Hilfe haben sie nichts beizutragen.
(Ich werde den Verdacht nicht los, dass das mit der Geschichte des Umgangs mit Schmerzen zu tun hat. Das jemand zu sterben wünscht, zum Beispiel, weil er für ihn unerträgliche Schmerzen leidet, finden die Kirchen nicht so schlimm, schließlich hat Jesus ja auch am Kreuz gelitten. Und das jemand zu sterben wünscht, solange er bei Sinnen ist, spielt gar keine Rolle -- das ist die Kehrseite eines Menschenbildes, das sich immerzu auf die "Ebenbildlichkeit" beruft, was allzu leicht rein äußerlich begriffen werden kann.)

Wie komme ich darauf? Der Gemeindebrief kam heute, darin wurde (kritiklos) aus einer ähnlichen Erklärung der EKD zitiert.

Do Kant yourself

Böhlau bei UTB verwöhnt uns mit einer neuen Buchreihe, sie heißt "leicht gemacht". Mir liegt derade vor Kant leicht gemacht von Georg Römpp. So erfreulich das Aufnehmen eines "besonderen didaktischen Konzepts" ist, das einen "neuen Zugang zu den Denkwelten" des Philosophen ermöglicht, so bedenklich finde ich den Titel. Grammatisch passt zu "leicht gemacht" ein Verb. Wir sind eingeladen zu "kanten"! Das ist die neue Erkantnistheorie von UTB...

Und die neue Didaktik? Eine berechtigte Frage. Ich habe schon den Eindruck, dass Römpp sich Zeit nimmt für einzelne Themen und sich bemüht, diese verständlich darzustellen. Dass Bildchen und Fettdruck dabei ins Auge springen, muss ja kein Nachteil sein. Wie sehr er den echten Kant trifft, sollen andere entscheiden. Immerhin deckt das Buch Das Wahre, Das Gute und Das Schöne im Werk Kants ab, und damit alles, was ein Philosoph braucht.

Sex von A bis Z

Hat Philosophie was dazu zu sagen? Oh ja, natürlich. Und ohne dass die sexuellen Vorlieben von Philosophen ins Spiel kommen müssen (da frage ich mich schon manchmal, ob zukünftige Diskursarchäologen nicht auf merkwürdige Zusammenhänge kommen werden).
Und, wie tun es Philosophen? Philosophers do it deeper, philosophers do it a priori, usw. A posteriori ist hier eine zweibändige Philosophical Encyclopedia anzuzeigen, die Alan Soble herausgegeben hat, und deren Haupttitel lautet Sex from Plato to Paglia. Mit den erwartbaren Einträgen zu Sachen, Konzepten und Personen, etwa Pornography, Bisexuality oder Freud musste man rechnen, aber natürlich wird auch die Frage beantwortet, wer Paglia ist: Camille Paglia, *1947, "a leading culture critic and feminist dissident". Das Wort "Enzyklopädie" im Untertitel ist kein Zufall, die Einträge sind essayistisch und umfangreich -- die Zahl der Stichworte in der Folge geringer als in einem Wörterbuch.
In der Zielgruppe des Werks sind nicht nur Philosophen, sondern auch Theologen, Psychologen, Gender studies, "Arts & humanities in general". Das Buch enthält eine Beiträgerliste, aus der neben Informationen über deren Forschungsinteressen -- die Interessen der Beiträger sind so breit gestreut wie die der Zielgruppe -- hervorgeht, welche Artikel sie verfasst haben. Name und subject index helfen dabei, sich zurechtzufinden.
Alles in allem: sicher ein nützliches Werk. Wieviele werden davon wohl in Deutschland verkauft werden?