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29 Juni 2009

Glücklich ist, wer vergisst...

Bin gerade beim Aufräumen, und dabei fiel mir die folgende Beobachtung wieder ein:

Das ist eine Seite (Blatt 23 r) aus einem Erlanger Stammbuch (Signatur: H62/Ms 1371). Die Textzeile lautet: "Glücklich ist wer vergisst was nicht mehr zu ändern ist." Das kommt einem doch bekannt vor? Wer gebildeter ist als ich, kommt sicher schneller drauf: das ist das Motto von Johann Strauß' Operette Die Fledermaus, d.h. die Googelei schreibt das Zitat Strauß zu, oder seinen Librettisten. 1874 war die Erstaufführung. Im Text der Operette kommt das Zitat zweimal vor, einmal in der Variante "... was doch nicht zu ändern ist" (14. und 15. Auftritt).
Das Erlanger Stammbuch zeigt allerdings einen Eintrag vom 19. September 1784, also 90 Jahre früher! Blicken wir doch mal in die Sprichwörterlexika, die müssten doch Quellen vor der Strauß-Oper angeben.
Der Röhrich ist da keine Hilfe; er schreibt im Vorwort: „Sogar Operettentexte wurden zu sprichwörtlichen Merksätzen: ›Glücklich ist, wer vergißt, / was nicht mehr zu ändern ist‹ (Fledermaus).“
Dafür der Wander (Deutsches Sprichwörterlexikon):
Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern (oder: was doch nicht zu erlangen) ist". – Müller, 25, 3; Simrock, 3815; Braun, I, 888; Körte, 2285; Lohrengel, I, 325.
Lat.: Feras, non culpes, quod mutari non potest. (Publilii. Syrii Sententiae.) (Binder II, 1122.) – Quae non mutari, sunt toleranda, queunt.

Publilius Syrus ist ein römischer "Mimen-Autor" aus dem 1. Jahrhundert nach Christus. Müller (1816), Simrock (1846), Braun (1840), Körte (1837) und Lohrengel (1860) sind Sprichwörterlexika des 19. Jahrhunderts, die Quellen für Wanders Zusammenstellung sind. Wäre interessant zu prüfen, ob einer von diesen eine frühere Quelle hat als die oben abgebildete -- ich frage mich schon, wann die Sentenzen-Übersetzung in dieser Versform kanonisch geworden ist.

25 Juni 2009

Neues über Foucault

Gerade im Neuerscheinungsdienst der DNB (Heft 24, Nr. 85) entdeckt: Foucault Blank Book : Denken macht schön. Hamburg : Junius, 2009. Während es dort über den Preis heißt, er sei "in Vorbereitung", sagt mir das VLB, dass dieses Werk "kostenlos" sei! Was daran liegen muss, dass nix drin steht, wie einem die Suche auf der Webseite des Verlages zeigt. Mal sehen, ob der Link auf die Detailansicht des Buches klappt (gesucht mit der ISBN 978-3-88506-455-8). 12,90 € für 160 Seiten.

Bin mir nicht sicher, ob die Einordnung in die Kategorie "Philosophie" für ein Buch mit leeren Seiten wirklich die richtige ist...

Ach, das ist Nihilismus?

Springers neues Suchspielzeug

Unter www.springerexemplar.com kann man das Auftauchen von Einzelwörtern in den Texten des Verlags untersuchen. Da Springer a) ziemlich groß und b) in der digitalen Präsentation seiner Texte ziemlich weit ist, kommt da schon eine erkleckliche Menge an Texten zusammen. Für den Ausdruck "thought experiment" findet das Suchspielzeug über 500 Treffer, die dann aufgelistet werden -- und mit weiteren Drill-Down-Möglichkeiten dargestellt. Diese Darstellung finde ich sehr übersichtlich; es sind z.B. folgende Ergebnisse zu sehen:




Die Zeitleiste gefällt mir am besten. Sie zeigt deutlich, dass das Forschungsgebiet erst in den letzten Jahren Konjunktur hat. Der Bereich "Journals" ist nicht so aussagekräftig -- da eben nur Springer-Zeug enthalten, und da auch nicht klar ist, wie weit überhaupt der digitale Content zurückreicht. Die "Erkenntnis" z.B. ist mit ihrer Vorgängerzeitschrift "Annalen der Philosophie" seit Anbeginn, d.h. seit 1920 bei Springerlink digital verfügbar.

Vor den Vorsokratikern

"Mit den Vorsokratikern begann etwa zwischen 600 und 400 v.Chr. die abendländische Philosophie", kann man bei Wikipedia lesen. Maria Michela Sassi schreibt in ihrem neuen Buch Gli inizi della filosofia: in Grecia (Torino: Bollati Boringheri, 2009), was davor war, und inwieweit man das schon als Philosophie verstehen sollte. Vielleicht vorher noch einen kurzen Blick auf die Vorsokratiker?

Proquest Open Access Dissertationen

Nachdem ich mich durch über tausend digitale Dissertationen gewühlt habe, die bei UMI / Proquest Open Access gestellt wurden, um die philosophischen rauszufischen, da Proquest kein thematisches Browsing erlaubt -- schreibe ich die hier noch mal auf. Wir haben die nun auch im Katalog nachgewiesen, aber das allein wird nicht zu stark vermehrter Nutzung beitragen.


by Durigon, Albert Peter ,Ph.D., University of Dublin (Ireland), 1998, 181; AAT 3267749

by Skorin-Kapov, Jadranka ,Ph.D., State University of New York at Stony Brook, 2007, 334; AAT 3299720

by Thompson, Jeffrey E. ,M.A., California State University, Dominguez Hills, 2007, 91; AAT 1445163

by Schuberth, Jennifer M. ,Ph.D., The University of Chicago, 2008, 241; AAT 3322669

by Brooks, Adelaide H. ,Ph.D., Pacifica Graduate Institute, 2007, 239; AAT 3281482
In diesem Buch geht es um die Anziehungskraft der einsamen Orte. Aus dem Abstract: "The purpose of this study is to discover ways to listen into desolate place, and to provide opportunities for the wisdom of the land to be heard."

by North, Paul ,Ph.D., Northwestern University, 2007, 446; AAT 3278070

by Heis, Jeremy ,Ph.D., University of Pittsburgh, 2007, 349; AAT 3300571

by Billings, Louis Albert, III ,M.A., California State University, Dominguez Hills, 2007, 93; AAT 1452142
Der "Hermetische Orden der Goldenen Dämmerung" war eine englische Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Der historische Überblick der Wikipedia bringt mich nur auf die Frage, ob es Angehörigen von Geheimgesellschaften nicht genug ist, einer anzugehören --man muss gleich noch eine oder zwei selbst gründen...

by Roseman, Herbert ,Ph.D., Columbia University, 2008, 300; AAT 3299363

by Fontaine, Michael ,Ed.D., University of San Francisco, 2008, 179; AAT 3317691


by Lyons, Elliot ,M.A., The American University, 2008, 99; AAT 1455148

by Fristedt, Peter Erik ,Ph.D., State University of New York at Stony Brook, 2008, 188; AAT 3338158

by Keele, Lisa ,Ph.D., Indiana University, 2008, 349; AAT 3319910
The dissertation focuses on four mathematicians/philosophers from the late nineteenth and early twentieth centuries who were concerned with mathematical continuity. Richard Dedekind and Georg Cantor, in the 1870s and 1880s, developed the concept of a 'point-continuum;' i.e. a continuum composed of discrete entities, such as a collection of numbers arranged on a straight line. Paul du Bois-Reymond, in 1882, and Charles S. Peirce, especially in his post-1906 essays, criticized this compositional point-continuum. Du Bois-Reymond believed infinitesimals were necessary for continuity; Peirce believed no compositional continuum could ever satisfy our intuitions. (Aus dem Abstract)

by Rosenberger, Robert Joseph ,Ph.D., State University of New York at Stony Brook, 2008, 284; AAT 3338165

by Leon Ruiz, Nicolas Elias ,Ph.D., State University of New York at Stony Brook, 2007, 157; AAT 3334944

by Grabiner, Ellen ,Ph.D., Union Institute and University, 2007, 309; AAT 3282705

24 Juni 2009

"Man muß vielerley lesen"

"und weniges sich zum Muster wählen", so das Motto von Leggere Kant : dimensioni della filosofia critica, was Claudio La Rocca herausgegeben hat. Quellenangabe im Buch: "Immanuel Kant". Aber wo hat Kant das geschrieben?
Die Antwort weiß vielleicht das Bonner Kant-Korpus: In der Tat, der Satz steht in Band 16 der Akademie-Ausgabe, S. 869 (Handschriftlicher Nachlass). Er lautet aber so:
Man muß vielerley lesen und wenigstens sich zum Muster wählen.
Das bloße Lesen ist genießen, ohne zu verdauen; es ist schwelgen.
Daher Helluo librorum.
"wenigstens"! Scheint mir zwar so zu verstehen wie das "weniges", aber doch ein Unterschied.

22 Juni 2009

Digitale Dissertationen in der Philosophie

sind bisher dünn gesät. Daher erlaube ich mir, hier Tobias Klauks Gedankenexperiment-Dissertation hervorzuheben, die auf dem Göttinger Schriftenserver liegt: Gedankenexperimente - eine Familie philosophischer Verfahren (2008). Klauk unterscheidet sich von anderen Theoretikern wesentlich darin, dass er die Beurteilung eines Szenarios in den begrifflichen Umfang von "Gedankenexperiment" mit reinnimmt, womit auch der argumentative Kontext eines Szenarios jeweils berücksichtigt ist. Hhm, das nur am Rande. Eigentlich wollte ich darauf hinweisen, wie man open-access-veröffentlichte philosophische Dissertationen findet. In Deutschland kann man schlicht über Dissonline gehen. Mit dem Klick auf Recherche links kann man dann "Metadatensuche" wählen und dann im Suchfeld die "Sachgruppe" "Philosophie" auswählen. Da gibt es heute 201 Treffer. Warum die ersten 4 "Datensatz kann nicht angezeigt werden" haben, weiß ich nicht. Exportieren kann man nur 100 Treffer, schade. Auch das Feature "Meine Auswahl" hilft da nicht, weil man die Treffer nicht markieren kann und weil man nicht sagen kann, welche Gruppe von Treffern exportiert werden soll (etwa: Treffer 1-100, Treffer 101-200). Da ist noch Verbesserungspotential! Man muss also seine Suche so einschränken, dass man unter 100 Treffer erhält, und dann wiederholen mit anderen Kriterien. Am besten eignet sich dafür die Jahreszahl.
Während das Portal im Untertitel "Digitale Dissertationen im Internet" heißt, verschweigt es, dass es sich hier nur um deutsche (plus Züricher und Wiener) Hochschulschriften handelt, wie man sieht, wenn man die Institutionenliste durchblättert.

Neulich habe ich bemerkt, dass es auch ein paar amerikanische Dissertationen gibt, die Open Access zur Verfügung stehen -- bei ProQuests Angebot "PQDT Open". Leider kann man hier nicht thematisch browsen, so dass es nicht möglich ist, eine Suche auf die Philosophie zu beschränken. Allerdings werden wir die dort angezeigten Dissertationen in den Erlanger OPAC übernehmen, so dass sie dort auch nachgewiesen sind.

16 Juni 2009

Mittelalterliche Modallogik

Von vielen der ILLC-Veröffentlichungen verstehe ich nur Bahnhof. Das ILLC ist das Institute for Logic, Language and Computation der Universität Amsterdam, und es entfaltet eine rege Publikationstätigkeit, unter anderem mit einer Preprint-Serie, die wir gedruckt bekommen, die aber auch komplett online verfügbar hier ist: http://www.illc.uva.nl/Publications/reportlist.php?Series=PP. Da gibt es Aufsätze wie "Interpretability in PRA" (pdf), bei dem man als Laie nur raten kann, was PRA wohl bedeutet, da die Autoren Leser voraussetzen, die das wissen. Und die dann mit der Bemerkung was anfangen können, IL(PRA) sei weder ILM noch ILP.
Die Erschließung von solchen Sachen ist eine pain in the ass.

Andererseits findet man aber auch Aufsätze, die schon mit einem allgemeinverständlichen Titel glänzen, wie Sara Uckelmans "Three 13th-century views of quantified modal logic" (pdf). Wikipedia hat übrigens einen lesenswerten Artikel zur Modallogik, der auch ein paar Bemerkungen zur Geschichte macht: im Mittelalter habe sich Duns Scotus mit modallogischen Begriffen beschäftigt. Uckelman untersucht 3 mittelalterliche Texte und kommt zu dem Ergebnis, dass darin die Quantifizierung modallogischer Ausdrücke (die in der gegenwärtigen Logik für unfruchtbar erachtet wird laut Uckelman) eine nachgerade folgerichtig fortschreitende und systematische Entwicklung war mit achtbaren Ergebnissen und, nach ihrem Urteil, sich konzeptuell natürlicher ergibt als die gegenwärtige Behandlung nichtquantifizierter Ausdrücke. Ah, ich merke, dass ich wieder beim Bahnhof angekommen bin...

14 Juni 2009

Wann genau hat Béla von Brandenstein gelebt?

Béla von Brandenstein ist ein in Budapest geborener Philosoph, der nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland, genauer: in Saarbrücken gelebt und gewirkt hat und dort auch gestorben ist. Es gibt eine mehrbändige Grundlegung der Philosophie von ihm und noch so allerhand. Bis zu einem eigenen Wikipedia-Artikel hat er's aber nicht gebracht; er wird nur im Eintrag zu einem Adelsgeschlecht der Brandensteins erwähnt.
Die SWD weiß, dass Brandenstein von 1901 bis 1989 gelebt hat. Geburtstag und Todestag fehlen aber. Da die Googelei nicht auf den ersten Seiten die gesuchte Information bringt, komme ich auf die Idee, die Google-Buchsuche zu benutzen, um damit vielleicht den einen oder anderen Nachruf aufzutun. Und voilà: Ich finde das Ungarn-Jahrbuch von 1989, in dem auf S. 313 der Todestag erwähnt ist: der 24. August. Leider konnte ich den Snippet auf der Seite nicht erkennen, aber ich fand über die Buchsuche noch einen zweiten Nachruf, nämlich in der Revue philosophique du Louvain von 1990, S. 450. Dort steht, dass Brandenstein am 17. März 1901 geboren wurde.

11 Juni 2009

Philosoph Volker Gerhardt gegen Open Access -- warum eigentlich?

via Ben Kadens Artikel im IBI-Weblog .

Der Philosoph Volker Gerhardt hat in der FAZ und einen Tag später bei FAZ online einen Text zum Thema Open Access veröffentlicht: "Die Folgen des Publizierzwangs". Er scheint dagegen zu sein. Warum eigentlich?

Gerhardt ist, das muss man neidlos anerkennen, mit den Wassern der Rhetorik gewaschen. Gleich anfangs entwirft er eine Vision des Open Access, die schon negativ gefärbt ist, bevor er überhaupt ein Wort zu ihrer Gestalt verloren hat. Die Idee "Open Access" habe "bezwingenden Charme", schreibt Gerhardt, und zwar besonders, wenn sie "von Organisationen stammt, die schon Unmögliches wie den Bologna-Prozess, die Exzellenz-Initiative, die Evaluationsexzesse und den Interdisziplinaritätsfuror zuwege gebracht haben".
Evaluationsexzess -- das ist negativ gefärbt.
Interdisziplinaritätsfuror -- das ist negativ gefärbt.
Wir können ja mal raten, ob Gerhardt Exzellenz-Initiative und Bologna-Prozess gut findet. Vielleicht mag Gerhardt die Exzellenz-Initiative nicht, weil es der Humboldt-Uni, an der er lehrt, nicht gelang, als exzellente Uni erkannt zu werden.

Hinter dieser negativen Färbung kann man schon beinahe nicht mehr lesen, worum es geht: "Was immer mit Steuergeldern unterstützt wird, soll im Ergebnis für jeden Steuerzahler kostenlos im Netz zu lesen sein." Ja, schön wär's! Und schwupps, hat Gerhardt dies in die Nähe des Sozialismus gerückt: "Die Idee ist berückend, nichtnur für jene, die schon immer der Meinung waren, dass die Wissenschaft der wichtigste Bundesgenosse auf dem Weg in den Sozialismus ist". Ist offensichtlich, dass Gerhardt sein "nicht nur" lediglich als Entschuldigung dafür nutzt, "Sozialismus" mit Open Access in einem Atemzug zu nennen. An der Humboldt-Uni kennt man sich ja ohnehin aus mit der wissenschaftlichen Unterstützung des Sozialismus, oder?

Erstaunlicherweise hat Gerhardt "nicht den geringsten Einwand gegen die Idee eines offenen Zugangs zu allen wissenschaftlichen Informationen". Ja dann! Was treibt ihn denn dann eigentlich um? Antwort: "Dass die Wissenschaft - und die Öffentlichkeit selber - dabei Schaden nimmt".

These: Wissenschaft und Öffentlichkeit nehmen durch Open Access Schaden.
Steile These. Für diese hat Gerhardt ein einziges Argument, nämlich: der "Imperativ des Open Access" verlange nach der Forschung die unverzügliche Publikation, "wenn es zu keinem Vergehen an der Gemeinnützigkeit der Wissenschaft kommen soll". Open Access ist demnach eine Forderung, die die Forschung dem Zwang der Geschwindigkeit und des "Publish or perish" unterwirft.
Daraus ergeben sich dann für Gerhardt notwendig weitere negative Folgen; er sieht eine Reihe von "Sinkstufen" zum gänzlichen Verfall der Wissenschaft.

Schon hier möchte man innehalten und fragen: Wie kommt Gerhardt darauf, dass Open Access bedeutet, Forschungsergebnisse müssten unverzüglich publiziert werden? Dies ist eine so seltsame Verzerrung, dass ich sie noch nirgendwo anders gelesen habe. "Open Access" ist keine Bewegung, die Einfluss darauf haben möchte, was veröffentlicht wird, sondern nur darauf, wie das geschieht. Und selbst wenn Gerhardt nicht die Open-Access-Bewegung als solche meint, sondern viel enger im Reuß-/Jochumschen Sinne befürchtet, nicht nur die Forschungsförderinstitutionen, sondern auch die Hochschulträger würden ihren Angestellten ein Open-Access-Mandat ins Stammbuch schreiben -- selbst wenn Gerhardt also ein Open-Access-Mandat für Hochschullehrer meinen sollte, folgt aus solchem ja nicht, dass diese damit Dinge publizieren müssten, die sie noch nicht für publikationswürdig halten!

Nebenbemerkung: Ein bisschen zynisch finde ich außerdem die implizite These, die Jungforscher müssten ja jetzt schon alles sofort veröffentlichen, aber mit der Open-Acess-Forderung würde dies "auf alle ausgeweitet". Was soll denn daran so schlimm sein, wenn die älteren Wissenschaftler(innen) denselben Forderungen unterliegen wie die jüngeren? Anders ausgedrückt: Wenn Gerhardt "Publish or perish" -- was immer er darunter versteht -- für unzumutbar hält, sollte er dann nicht darum kämpfen, dass auch die jungen Wissenschaftler davon befreit werden? Statt bloß zu klagen, das dürfe nicht "für alle" die Norm werden?

Zurück zum Hauptgedanken. Das ist ja eine bekannte Taktik der Open-Access-Gegner, dass sie der Bewegung deutlich stärkere Forderungen unterstellen, als sie vertritt, um dann anklagend den Finger zu heben: "seht Ihr, das ist unzumutbar!"
Natürlich verlangen Forschungsförderinstitutionen, wenn sie Geld ausgeben, dass die geförderten Projekte sich in Publikationen niederschlagen. Das ist aber keine neue Unzumutbarkeit, sondern war schon vorher und akzeptierterweise so (daher die vielen Aufsatzbände mit den Ergebnissen von Sonderforschungsbereichen und von geförderten Kongressen). Dazu Gerhardt "[Die Wissenschaft] leidet schon lange genug unter der Verwechslung von Quantität mit Qualität, mit der das Rating an die Stelle der Urteilskraft tritt". Das übersetzte ich in: Es wird schon jetzt zu viel publiziert, und mit Open Access wird das nur schlimmer. Die Antwort darauf ist: Ob mit Open Access weniger oder mehr publiziert wird als ohne, ist eine offene Frage. Ob weniger oder mehr oder gleich viel: es ist besser zugänglich. Dass man nicht einfach den Open-Access-Gedanken für wissenschaftspolitische Schwierigkeiten verantwortlich machen kann, zeigt ja Gerhardts "lange genug". Gemeint ist: schon vor Open Access.

Stil und Erkenntniswege
Auch Gerhardts Überlegungen zur "Bedeutung des Stils" und zur "Vielfalt der Erkenntniswege" haben nicht mehr mit Open Access zu tun als mit anderen Veröffentlichungswegen auch. Gerhardts Zerrbild ist: "jeder ist sein eigener Lektor". Das möchte er nicht. Aber dass a) eine Open-Access-Publikation einen Prozess der Begutachtung durchlaufen haben kann, ist genauso wahr wie dass b) eine gedruckte Publikation keinen Prozess der Begutachtung durchlaufen zu haben braucht. Wenn man sich fragt, was für eine Vorstellung von Open Access hinter Gerhardts Polemik steht, dann wird spätestens an dieser Stelle im Text die Antwort deutlich: Gerhardt denkt an die Selbstveröffentlichung auf der Homepage: da gibt es keinen Lektor, und da gilt auch, dass man einen Text "im Netz abgelagert" hat. Dass eine solche Veröffentlichung nicht gleichbedeutend mit "Rezeption" ist, ist klar. Aber dass bei Open-Access-Veröffentlichungen auf erprobten Kanälen durchaus höhere Zitationsraten erzielt werden als bei der reinen Print und Closed-Access-Veröffentlichung, lässt Gerhardt hier außen vor. Vermutlich weiß er es nicht. Wird daran liegen, dass es in Deutschland in der Philosophie keine konkurrenzfähige Open-Access-Zeitschrift gibt.

Open Access, Peer review und Querköpfe
Inwieweit Open Access die "Vielfalt individueller Arbeitsweisen" bedroht, bleibt Gerhardts Geheimnis. Inwiefern ein produktiver Querkopf davon profitiert, dass er durch die Mühlen der paradigmaverhafteten Peer review muss, ebenfalls. ("Peer review" kommt als Begriff bei Gerhardt nicht vor, aber ich führe das hier an als Mechanismus der Qualitätssicherung, der bei der Selbstveröffentlichung auf der Homepage nicht zum Zuge kommt.) Denn es ist ein Gemeinplatz der Wissenschaftstheorie ebenso wie der Peer-review-Forschung: Peer reviewing tendiert konservativ dazu, Beiträge höher zu bewerten, die im Konsens oder im lediglich wohldefinierten kurzen Abstand zum Mainstream liegen. Habe ich erst kürlich wieder irgendwo gelesen. Interessant auch die Feststellung, dass ein vollständig digitaler Workflow bei der Veröffentlichung von Zeitschriften dazu beiträgt, die Qualität des Peer Review zu erhöhen (siehe Nature (http://www.nature.com/nature/peerreview/debate/nature04996.html)). Nicht, dass ein vollständiger digitaler Workflow notwenig Bestandteil von Open Access wäre. Aber da die Gegner ja gerne Internet und Open Access in einen Topf werfen, möchte ich hier das auch mal tun... :-)

These: Die Wissenschaft wird "entliterarisiert"; die Schriftkultur ruiniert.
Das liegt daran, dass die Wissenschaftler bei Open Access ihre Texte selbst publizieren wollen und den Verlagen, so sie ihre Texte ihnen überlassen, keine Rechte mehr zugestehen wollen, meint Gerhardt. Also werden die Verlage nichts mehr bearbeiten wollen, weil sie keine Profite mehr damit machen können, also wird dies verfallen: wird es keine großen Editionen mehr geben, nur noch die "dilettantische Textbearbeitung durch die Editoren". Was im Netz steht, "kommt ohne kundige Bearbeitung durch professionelle Lektoren und Produzenten auf den Schirm".
Die Folge. Die Wissenschaftler müssten selbst tun, was die Verlage getan haben. "Die Etats der Wissenschaft [werden] mit Sicherheit nicht ausreichen, um alles das zu finanzieren, was derzeit noch die Verlage bieten". Hhm, seltsam. Von welchem Geld machen Wissenschaftsverlage eigentlich ihre Gewinne?

Natürlich wird das Lektorieren und Edieren teurer, wenn statt eines beim Verlag angestellten Lektors, der, sagen wir, wie ein wissenschaftlicher Angestellter bezahlt wird, ein Prof das selbst macht, der eben wie ein Prof bezahlt wird. Aber warum sollte das so sein? Für's Korrekturlesen setzen Profs ohnehin gern Assistenten und Hilfskräfte ein. Vor allem letztere sind deutlich billiger als ein wissenschaftlicher Angestellter. Wie es um die "Produzenten" steht, ist auch noch so eine Frage.

Welche Texte brauchen denn großartige Produktion? Natürlich, das Lieblingsbeispiel der Open-Access-Gegner, die großen kritischen Texteditionen. Die führt auch Gerhardt an: die "Akademie-Ausgaben der Werke von Leibniz, Kant oder Nietzsche, von Mozart, Brahms oder Schönberg". Beispielhafte Prüfung_
Die Kant-Ausgabe wird doch nicht vom Verlag bezahlt! (siehe http://web.uni-marburg.de/kant//webseitn/gt_home1.htm)
Die Leibniz-Ausgabe wird doch nicht vom Verlag bezahlt!
<http://www.leibniz-edition.de/Geschichte/>
Die Mozart-Ausgabe wird doch nicht vom Verlag bezahlt!
<http://www.adwmainz.de/index.php?id=134>

Die namhaften Akademie-Ausgaben werden eben von den Akademien und vom Staat finanziert. Die Leistung der "Layouter und Produzenten", wo sie notwendig ist, könnte bei einer Open-Access-Publikation doch weiter beauftragt und bezahlt werden. Wieso soll die verschwinden, wenn man Open Access und im Web publiziert? Wieso soll Open Access gleichbedeutend sein mit "unprofessionell"?

These: Was nur OA, das heißt: nur im Internet publiziert wird, ist von Datenverlust mehr bedroht als was in Buchform vorhanden ist.
Jaja. Schließlich ändern sich die Datenformate so schnell, dass einem schwindlig wird, oder nicht?
Es scheint keinem der Open-Access-Gegner auffallen zu wollen, dass sich der Wechsel der Datenformate und -Systeme in den letzten 10 Jahren deutlich verlangsamt hat. Es scheint Ihnen auch nicht in den Kopf zu wollen, dass das Internet in diesem Fall, nämlich als betriebssystemunabhängige Plattform, der große Gleichmacher auch der Datenformate ist. Denn Kompatibilität ist Trumpf. Da wird es nicht mehr vorkommen, dass ein Text im obskuren "cwk"-Format veröffentlicht wird.

Schließlich:
Die Gegner werfen immer Internet und Open Access in einen Topf. Wie schön wäre es, hätten wir überhaupt eine Internet-Version der kritischen Kant-, Leibniz-, Nietzsche-Ausgaben. (Für Kant gibt es das zum Teil.) Das würde doch der Forschung neue Möglichkeiten eröffnen! Und wäre dies Open Access, wäre das natürlich noch schöner. Was Mozart, Brahms und Schönberg angeht, bin ich derselben Meinung -- auch wenn die Instrumente zur Analyse elektronischer Notenausgaben meiner Kenntnis nach noch nicht so weit entwickelt sind wie die zur Analyse von Textausgaben. Aber toll wäre's trotzdem.

09 Juni 2009

Praktische Ethik in der Bibliothek

heute: beim Digitalisieren.

Cokie G. Anderson: Ethical decision making for digital libraries. Oxford : Chandos, 2006. Die verlinkte Seite enhält auch ein Inhaltsverzeichnis. Das dritte und vierte Kapitel widmen sich dem Digitalisieren; insbesondere der Auswahl der digitalisierenswerten Bestände. Das Buch ist praktisch orientiert; so kommt es zu Sätzen wie: "The first and most important way to incorporate ethics into a digitisation policy is to have a written digitisation policy." Weil man vorm Schreiben stärker reflektiert. Allerdings wird hier viel "Ethik" genannt, was auch bereits durch andere Erwägungen abgedeckt ist; so meint Anderson, dass eine Institution eine moralische Verantwortung ("ethical responsibility") hätte zu prüfen, wie ein Digitalisierungsvorhaben in das "Mission statement" der Institution passt. Ich kann daran aber wenig moralisches erkennen; der verantwortliche (meist gleichbedeutend mit "wirtschaftliche") Umgang mit Ressourcen ist etwas, das einem der Träger mit auf den Weg gibt.
Auch die "moralischen" Überlegungen zur Auswahl von digitalisierenswerten Beständen erschöpfen sich in der Frage "Für wen ist das gut?" und das Abklappern der möglichen Antworten.
Auf den ersten Blick also ist das Buch ratsam für Leser, die den systematischen Zugang schätzen, weil es ihnen eine Basis für die eigene Reflexion gibt. Dabei beschäftigt es sich mit vielen Fragen rund um das Digitalisieren -- das "Moralische" im Titel ist als "praktische Vernunft" zu lesen.

08 Juni 2009

Gründlicher Kontextualismus

Keith DeRose denkt schon etwas länger über das Thema Kontextualismus nach und ist daher sicher einigen ein Begriff. Der Kontextualismus besagt, vereinfacht ausgedrückt, dass ob eine Aussage wahr oder falsch ist abhängig ist vom Kontext, in dem sie betrachtet wird. Das bedeutet nicht, dass hier Beliebigkeit regiert, sondern dass die Wahrheitsbedingungen mal enger, mal weiter ausgelegt werden müssen. Der Kontextualismus reagiert damit auf die skeptische Herausforderung, die absolute Sicherheit und Wahrheit bestreitet, mit der in beruhigendem Tonfall vorgetragenen Entgegnung "Brauchen wir nicht!"
Kontextualismus bringt damit auch etwas Bewegung in die Frage, was als Wissen zählen darf. DeRose hat nun einen ersten Band seiner Aufsätze zum Thema vorgelegt bei Oxford UP, The case for contextualism. Da "Vol. 1" genannt, darf man also mit einem zweiten rechnen. Auf seiner Webseite kann man nachlesen, dass dieser vermutlich "Solving the sceptical problem" heißen wird, nach einem der enthaltenen Aufsätze (JSTOR-Link).

Philosophie und angloamerikanische Open-Access-Zeitschriften

Ein paar Webfundstücke via Open Access Journals in Philosophy: Why Aren't There More, and More Better Ones? (Leiter Reports, 1.6.09) Beschäftigen sich generell mit der Frage aus Leiters Titelzeile.

Adopting Open Access (in Philosophy, etc.) vom 19.12.2008.
Posting anlässlich des Wechsels von Analysis von Blackwell zu OUP -- warum geht Analysis nicht den Open-Access-Weg? Man beachte die Kommentare.

Free everything?? (in Crooked Timber, 12.3.08)

Open Access Philosophy (in Tomkow.com, Juni 2008)



Philosophy & Theory in Biology. Neue Open-Access-Zeitschrift, anscheinend noch ohne Beiträge. Aber mit den hehrsten Zielen.

Etablierte englische OA-Zeitschriften:
Journal of Ethics and Social Philosophy. Philosopher's Imprint.

Und in Deutschland?
Hhm.

Open-Access-Zeitschriften:
Philosophie der Psychologie (bei Philo.at)
Physics and Philosophy (Uni Dortmund)
International Review of Information Ethics.
Hyle. Letzte Ausgabe 1/2008 bei eigentlich zweimal jährlicher Erscheinungsweise.
Polylog. Letzte OA-Ausgabe 2005.

Und natürlich Kritikon.