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16 März 2006

Das Gesetz als Rechenprogramm

Mspro hat in seinem Blog TIEF am 1. März die Vorgehensweise von Juristen beim 'Lösen' eines Falls mit dem Vorgehen eines Rechners beim Abarbeiten eines Programms verglichen. Und meint, dass die Rechtsprechung nicht Computern überlassen werden kann, weil es uneindeutige Fälle gibt.

Dazu zwei Überlegungen:
1. Dem könnte man ja durch eine Vereinfachung des Rechts begegnen -- oder muss es etwa unentscheidbare Fälle geben, damit das Recht bestimmten Standards genügt? Bernard Williams schrieb in einem Aufsatz zum Problem Moralischer Dilemmata, dass ein moralisches Dilemma auf die Fehlerhaftigkeit / Inkonsistenz der zugrundeliegenden Regeln und Werte hindeute. Das gilt sicher auch für den viel stärker kodierbaren Bereich des Rechts.

2. Wenn das Recht vollständig berechenbar / entscheidbar wäre, sich also als Turing-Maschine begreifen ließe, dann könnte man doch auch den mit der Entscheidung befassten als Handelnden im Chinesischen Zimmer (nach dem Gedankenexperiment von Searle) betrachten. Hieße das, dass ein Jurist das Recht nicht verstehen muss, um Jurist sein zu können? Und warum ist das eine unbehagliche Vorstellung?

Mspro tendiert in die andere Richtung: jeder Fall sei einzigartig, Richter befänden sich jederzeit außerhalb des "berechenbaren" Rechtsbereichs. Ich finde allerdings das Barbier-Beispiel nicht so glücklich; es zeigt vor allem die Unvollständigkeit der Zweiwertigen Logik. Mehrwertige Logiken mit Wahrheitswerten wie "unentscheidbar" würden des Problems schon Herr werden; vermutlich lässt sich denen auch ein funktionierendes Programm abgewinnen. Es käme also darauf an, wie das Programm bzw. das Recht beschaffen ist.

2 Kommentare:

  1. Durchaus haben Sie Recht, dass das Babierbeispiel unzureichend ist. Es vereinfacht die Logik auf zwei Werte, die der Situation des Rechts sicher nicht angemessen ist. Das ist ohne Frage unzulässig.
    Aber das ist auch gleichzeitig der Kern des Problems an sich. Das gibt Gelegenheit ein bisschen weiter in das Wesen des Gesetzes vorzustoßen.
    Ich kann nämlich an dieser Stelle Fragen: gibt es ein Beispiel, das zureichend wäre?
    Gehen wir von einem beliebigen Gesetz (und es ist auch völlig egal von welcher "Art" Gesetz man spricht, ob es schriftlich fixiert wurde oder nicht, ob es ein Naturgesetz oder ein menschliches Gesetzt ist, das Gesetz im juristischen, kulturellen oder sprachlichen Sinne. Das Gesetz des Gesetzes ist universell. Welches Beispiel könnte es repräsentieren?) aus und Fragen uns, ob es ein Beispiel gibt, das dieses repräsentieren kann. Klar, würde man sagen, es gibt diese Fälle. Beispielsweise, die von mir angeführten Übungsfälle. Sie sind absolute Beispiele für das Gesetz, deshalb wird ja auch an ihnen geübt.
    Aber, kann man diese Fälle nicht auch umgekehrt als Präzedenzfälle betrachten? Ja, das könnte man, wenn man sich das zugehörige Gesetz einfach wegdenkt.
    Drehen wir die Logik also um: sagen wir es gibt kein Gesetz, es gibt nur Fälle. Dann wäre der Beispielfall selber nur ein Präzedenzfall und das Gesetz, wie wir es kennen, wäre nur dessen Auswirkung. Man kann das Gesetz so betrachten, auch wenn es zunächst andersherum erscheint. Man kann das Pferd von hinten aufzäumen und behaupten: Die Entscheidung schafft Recht. Die Entscheidung schafft das Gesetz, nicht andersrum.
    Wenn man nun die Existenz des Gesetzes wieder mit einbezieht, dann könnte man aber immernoch sagen, der selbe Fall bestätigt oder bekräftigt das Gesetz. Und ist es nicht tatsächlich so, dass jedes Gesetz bestätigt oder bekräftigt werden muss, um Geltung zu haben?
    Man könnte konkret fragen:
    Was wäre ein Gesetz ohne Beispielfälle (welche in diesem Sinne nichts anderes wären als Präzedenzfälle)? Würde das Gesetz nicht umgehend abgeschafft werden? Wäre es nicht ein völlig unnützes und überflüssiges Gesetz, wenn es niemals angewendet wird? Also, gibt es das Gesetz ohne Urteil? Ist der Präzedenzfall nicht schon das Gesetz noch vor dem Gesetz? Oder abstrakter: Ist es nicht das Beispiel, dass eine Gattung oder eine Art erst erschafft oder begründet? Und tut es das überhaupt? Gibt es überhaupt Gattungen und Arten? Ich meine außerhalb unseres Denkens?

    Ich sage deshalb, dass man das Gesetz nicht vor dem Urteil denken kann. Man kann die Gattung nicht vor dem Beispiel denken. Die Idee nicht vor dem Phänomen. Die Logik nicht vor der Empirie.

    Und ich sage zweitens: Das Urteil ist niemals beispielhaft, sondern immer einzigartig. Genau und streng betrachtet jedenfalls ist es das. Das heißt auch, dass es genau genommen kein Gesetz gibt, jedenfalls keine Einheit des Gesetzes. Die Einheit des Gesetzes wäre immer nur vorgestellt.

    Jetzt werden Sie sicher sagen, das hieße nichts anderes als Anarchie. Es gibt kein Gesetz und deshalb gibt es keine Ordnung. Aber es gibt doch Ordnung, jedenfalls bis zu einem bestimmten Punkt gibt es sie.
    Da muss ich Ihnen recht geben. Und dennoch ist das Gesetz nur vorgestellt. Es braucht ein Gesetz. Es muss ein Gesetz geben. Das jedenfalls denken und glauben die meisten. Und weil es so ist, dass das die meisten glauben, gibt es so etwas wie ein Versprechen. Das Gesetz wird geglaubt und man kann nichts anderes tun als daran zu glauben und es ist absolut notwendig daran zu glauben. Aber man muss eingestehen, dass es eben nichts anderes gibt als diesen Glauben an dieses: "Es muss ein Gesetz geben" -Versprechen.

    Und wenn ein Urteil gefällt wird, dann muss man - vielleicht notwenigerweise - glauben, das Gesetz darin repräsentiert zu finden, es wiedererkennen (vielleicht in einer platonischen Anamnese) und sich so in seinem Glauben an das Gesetz bestätigt zu fühlen. Aber, weil ich weiß, dass es das Gesetz nicht gibt, es nicht geben kann, muss ich mich hinstellen und sagen: "Es gibt das Gesetz."

    Und hier sind wir vielleicht schon mitten in der Sphäre der Religion. Die Religion die einzig geglaubt werden kann, wie das Gesetz.
    Wir erinnern uns: "Im Anfang war das Wort", das Wort Gottes das sicher als Gesetz verstanden sein wollte. Aber es gab kein Glauben an das Gesetz, denn Gott, dem man sicher deswegen zurecht einen hinterhältigen Charakter zuschreiben kann, ließ ja Adam und Eva bekanntlich ohne das Wissen um Gut und Böse, also dem Glauben an das Gesetz agieren. Er dürfte sich eigentlich nicht wundern, dass die beiden in den Apfel bissen, vom Baum der Erkenntnis.

    Sie überschritten das Wort, das für sie noch gar kein Gesetz war. Und erst dann wird das Wort zum Gesetz, in diesem ersten aller Urteile, der Vertreibung aus dem Paradies. Das Urteil erst machte aus dem Wort das Gesetz, indem es vollstreckt wurde und so Adam und Eva glauben machte. Es braucht dazu keinerlei magische Wirkstoffe im Apfel, sondern der Präzedenzfall ansich ist die Erkenntnis des Gesetzes oder dessen Versprechen oder Drohung (was das gleiche ist) von Gut und Böse. Und das Gesetz ansich ist bereits die Vertreibung aus dem Paradies, dieser gesetzlosen Zone.

    Es ist falsch anzunehmen Adam und Eva überschritten ein Gesetz. Wie hätten sie das tun können, ohne das Wissen um gut und böse?
    Das ist die Wahrheit über das Gesetz: Es gibt Gesetz sobald es Urteil gibt. Oder genauer: Es gibt den Glauben an das Gesetz sobald es Urteil gibt.

    Ich weiß sehr wohl, dass das eine eigenwillige Interpretation der Genesis ist. Aber „glauben“ heißt auch immer auf „seine Weise glauben“. Wir glauben nur, dass wir an dasselbe Gesetz, denselben Gott oder dieselbe „Tatsache“ glauben. (Wer könnte das schon überprüfen?) Vielleicht ist aber auch diese Illusion notwendig. Aber oft ist sie auch gefährlich. Sie rechtfertigt alles das, was wir an Intoleranz, Eifersucht und Rachsucht kennen. Die Kreuzzüge, die Kolonisation, und ethnische Säuberungen. Man sollte vorsichtig sein mit dem Gesetz, das es nicht gibt. Vielleicht sollte man sogar offen zugestehen, dass es das Gesetz nicht gibt. Vielleicht sollte man auch einfach sagen, dass jeder ein anderes Gesetz hat und es einfach dabei belassen. Aber auch das hätte sicher Nachteile. Vielleicht ist das ja dekadent.

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  2. Auch Sie und ich können das Gesetz übertreten ohne die Kenntnis von Gut und Böse -- dazu bedarf es nur der Kenntnis, oder kafkaesker, nur der Existenz des Gesetzes. Dass man zur Rechenschaft gezogen wird, ohne das Gesetz gekannt zu haben, erscheint ungerecht, und diese Ungerechtigkeit macht für mich einen Großteil der Faszination Kafkascher Texte aus. Der war ja Dr. jur. und kannte sich damit gut aus.
    Den Zusammenhang zwischen Gesetz und Fall, den Sie schildern, würde ich ähnlich sehen, allerdings nur als einen Teilaspekt des Gesetzes, im Begriff der Performativität, wie ihn Judith Butler (für das soziale Geschlecht) benutzt hat. Die Wiederholung einer Handlung bestätigt und verlängert die Geltung einer Norm. (Sie kann sie natürlich auch verändern.)
    Adam und Eva sind in einer bedauerswerten Situation gewesen; mir scheint, dass man da eher von Befehl als von Gesetz reden sollte. Gesetz bedeutet eben auch, einen institutionalisierten Zugang dazu zu haben. Den hatten Adam und Eva nicht, sie hatten nur Gottes Befehl. Die Institutionalisierung des Rechts im Gesetz bietet auf der anderen Seite dem Rechtsträger die Möglichkeit der Sanktion gegen alle, die nicht ans Recht glauben wollen.

    Dass es "das Gesetz nicht geben kann", verstehe ich nicht recht; die angsprochene Performativität beruht hier doch -- im Unterschied zur geschlechtlichen Identität beispielsweise -- auf einer Urkunde, auf etwas Kodifiziertem, auf Überlieferungsgeschichte. Das Gesetz ist eine Idee, schon recht, aber eine Gestalt gewordene, die nicht einfach aufhört zu sein, wenn sie niemand mehr denkt.

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