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16 August 2007

Moralische Probleme kreativ angehen

oder: die Schwierigkeit von ethischen Gedankenexperimenten.

Kennen Sie das Heinz-Dilemma vom Psychologen Lawrence Kohlberg?(1)
A woman was near death from cancer. One drug might save her, a form of radium that a druggist in the same town discovered. The druggist was charging $2000, ten times what the drug cost him to make. The sick woman's husband, Heinz, went to everyone he knew to borrow the money, but he could only get together about half of what it cost. He told the druggist that his wife was dying and asked him to sell it cheaper or let him pay later. But the druggist said "no".

Anthony Weston wählt dies in seinem Buch Creative problem solving in ethics (Oxford UP, 2007) als Beispiel dafür, wie ein Szenario zur irrigen Annahme führen kann, es gäbe ja nur zwei Möglichkeiten (entweder Heinz klaut die Medizin oder er sieht seiner Frau beim Sterben zu). Das ist sinnvoll, wenn das Szenario eingesetzt wird, um die moralischen Intuitionen von Kindern zu prüfen (was die Psychologen damit tun). Aber nicht als Beispiel für echtes moralisches Überlegen. Stattdessen müsse man sich fragen, was es denn sonst noch für Möglichkeiten gäbe.
Er schlägt vor: Heinz könnte dem Apotheker etwas anderes Wertvolles im Austausch anbieten, z.B. eine Dienstleistung, die er vollbringen kann. Oder, da die Medizin ja gerade erst entwickelt wurde, könnte Heinz' Frau sich als Testperson zur Verfügung stellen (und dafür sogar vom Apotheker bezahlt werden). Oder Heinz' Frau könnte in die Apotheke einbrechen, sich entdecken lassen und auf ihre Verhaftung warten: der Staat müsse schließlich Gefängnisinsassen medizinisch versorgen. Oder er wendet sich an seine Versicherung. Oder an seine Familie und Freunde.
Hhm. Weston schlägt Möglichkeiten aus dem wirklichen Leben vor: die wir hätten. Aber das Szenario ist ja nicht aus dem wirklichen Leben. Das Szenario ist entwickelt, um eine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten zuzulassen. Es eignet sich nicht als Beispiel. Es steht z.B. explizit drin, dass Heinz kein anderes Geld auftreiben konnte: schließt Familie, Freunde, Versicherung aus. Auch das Verhalten des Apothekers wird eigentlich nur dann plausibel, wenn man ihm Böswilligkeit unterstellt. Also wird er auch nicht eine andere Leistung von Heinz haben wollen. Und dass der Staat den Apotheker dazu zwingt, seine Medizin abzugeben: Tja, dann müsste das doch eine Medizin sein, die allgemein anerkannt ist, und nicht eine, die ein einziger Apotheker anzubieten hat.
Also: was macht Westons Buch? Es ist kein Ethik-Buch für den Umgang mit typischen Gedankenexperimenten aus der Literatur, weil es zu zeigen versucht, wie man am besten beim Nachdenken auf neue Ideen kommt, wie man also mit Situationen umgeht, die man dilemmatisch findet.
Würde mich interessieren, was die Moralische Entwicklungsforschung, welche derartige Dilemmata ja für den Unterricht konstruiert, damit anfängt...



(1) Quelle: Colby, A., Kohlberg, L. et al., The Measurement of Moral Judgement, Vol 2, Cambridge University Press, 1987.

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