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12 September 2005

Sollten Alkoholkranke bei Lebertransplantationen benachteiligt werden?

Konkrete moralische Fragen sind für die Didaktik der Philosophie bzw. der Ethik etwas Feines. Jedenfalls dann, wenn es sich um echte Fragen handelt. Ob Antigone ihren Bruder hätte begraben sollen oder lieber dem Befehl des Onkels folgen, ist so wenig spannend wie die Frage, ob ein "Glücksmonster" den Utilitarismus als ethische Theorie fragwürdig macht.
Nein, die Beispiele müssen aus dem Leben gegriffen sein. Wie dieses: Der häufigste Grund für Leberversagen ist die alkoholbedingte Leberzirrhose. Es gibt weitaus weniger Spenderlebern als Leute, die eine brauchen. Wessen Leber versagt, der stirbt, wenn er keine bekommt. Laut einigen Untersuchungen haben Alkoholiker, die eine Leber gespendet bekommen, eine geringere Lebenserwartung als Organempfänger, deren Leber aus anderen Gründen versagt hat. Vor diesem Hintergrund fragten -- nachzulesen 1991 (Heft 265) im JAMA, dem Journal der American Medical Association, und 2005 in der sehr gut aufbereiteten und didaktisch brauchbaren Anthologie Consider Ethics -- Alvin H. Moss und Marc Siegler, ob Alkoholiker mit Leberversagen die gleiche Chance wie andere haben sollten, eine Organspende zu erhalten. Sie meinten: nein.
Dem widersprachen Carl Cohen und Martin Benjamin mit einer sorgfältigen Analyse der Argumentation von Moss / Siegler (im gleichen Heft des JAMA bzw. in der Anthologie ebenfalls). Kern des Gedankens: Der auf den ersten Blick attraktive Gedanke, ein moralisches Kriterium -- wenn man Alkoholismus als moralischen Fehler betrachtet, da jeder für sein Trinken selbst verantwortlich ist -- für die Verteilung eines medizinischen Gutes, die Spenderleber, einzuführen, hält ihrer Meinung nach der nüchternen Überprüfung nicht stand. Interessant scheint mir darüberhinaus, dass Cohen und Benjamin auch der Frage nachgehen, ob die erwartete negative Reaktion der Öffentlichkeit, wenn Alkoholiker Spenderlebern erhalten, einen Grund liefern könnte, ihnen die medizinische Maximalversorgung zu verweigern. Sie bringen also noch eine politische Dimension ins Spiel; der Fall bietet darum die Komplexität und Vielseitigkeit, die Nachdenken über Moral spannend macht.

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