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07 Mai 2006

Philosophische Gedankenexperimente, wie Nicholas Rescher sie sieht

Philosophische Gedankenexperimente sind eines meiner Lieblingsthemen. Die Faszination rührt ursprünglich von der schieren Phantastik und Absurdität mancher, denen ich im Laufe der Zeit begegnet bin, vor allem im Gebiet der Ethik. Das ‘Glücksmonster’ ist so ein Beispiel: erfunden, um gegen den Utilitarismus zu argumentieren.

Denken wir uns ein Wesen, dass Glück (wie auch immer definiert) sehr viel intensiver empfindet als alle anderen. Dann ist es nach dem Utilitarismus möglich, dass eine ganze Gesellschaft daraufhin zu arbeiten hätte, dass dieses Wesen seinen Glückslevel hält, weil so die Glücks-Gesamtsumme am größten ist. Aber das kommt uns ungerecht vor. Also ist der Utilitarismus falsch. (Stimmts?)

Gegen dieses Glücksmonster lässt sich natürlich ebenfalls argumentieren. Aber darum soll’s hier nicht gehen, sondern um Gedankenexperimente als solche. Es gibt inzwischen einen Haufen Literatur zum Thema, Bücher ebenso wie Aufsätze, und das ist längst unübersichtlich geworden. eine bloße Auflistung der Literatur hilft auch nicht viel weiter.
Mich interessieren eigentlich zwei Dinge:
1. Die begriffliche Seite: Was ist ein Gedankenexperiment, was macht es aus?
2. Die Vielfalt: Welche ‘klassischen’ Gedankenexperimente gibt es?
1. und 2. hängen natürlich miteinander zusammen. Denn die begriffliche Reflexion (1.) sollte möglichst nicht gedankliche Experimente ausschließen, die schon auf der Liste stehen (2.). Auf der anderen Seite sind sicher nicht alle Szenen, die in der Literatur als Gedankenexperiment genannt werden, tatsächlich welche.

Kürzlich habe ich in Nicholas Reschers What If? gelesen, der neuesten Publikation zum Thema.

Rescher, Nicholas: What if? : thought experimentation in philosophy. New Brunswick, London : Transaction Publishers, 2005.

Nicholas Rescher ist ein Vielschreiber. Man sieht das auch in diesem Buch über Gedankenexperimente in der Philosophie: gleich im Vorwort verweist er auf zig eigene Publikationen, in denen er sich dem Thema oder einem Aspekt davon schon einmal gewidmet habe. Außerdem sieht der Text aus, als sei er nicht noch einmal Korrektur gelesen worden: die Gedankenfolge wirkt manchmal etwas willkürlich und unsystematisch; es gibt einen Haufen Druck- und Schreibfehler, die zum Teil groteske Züge annehmen. Dass Rescher Roy A. Sorensen – der mit James Robert Brown Gedankenexperimente zuerst zum Thema eines eigenen Buches gemacht hat (von Brown stammt auch der Artikel thought experiment in der Stanford Encyclopedia of philosophy) – zuweilen Sorenson schreibt, ist so einer; dass er einmal auf eine Veröffentlichung von Kripke mit der Jahreszahl „19xy“ verweist ein anderer. Letzteres zeigt, dass er Kripke aus dem Gedächtnis anführt; etwas oberflächlich. Aber die Stärke des Buches liegt nicht in der sorgfältigen Bearbeitung von Forschungsliteratur; das sieht man auch daran, dass er Tamar Szabo Gendlers Buch von 2000 nicht zur Kenntnis genommen hat – die bis dahin systematischste begrifflich arbeitende Studie zum Thema.


RESCHERS THESEN

Die wichtigsten Thesen des 1. Kapitels: Gedankenexperimente sind Formen strukturierten hypothetischen Überlegens.

Ein Gedankenexperiment enthält (S. 7-8)

1. eine Annahme,
2. einen informierenden Kontext (aus Überzeugungen), in den die Annahme eingeführt wird,
3. eine Schlussfolgerung,
4. die große Frage, die das Gedankenexperiment bzw. die Schlussfolgerung beantworten soll,
5. die Argumentation für die Antwort auf die große Frage aus dem ERgebnis des Gedankenexperiments.

Entsprechend, meint Rescher, läuft ein Gedankenexperiment in 5 Phasen ab: Annehmen, Kontext spezifizieren, Schlussfolgerung ziehen, Lektion lernen, einfügen.

Diese Gliederung scheint mir recht überzeugend auf den ersten Blick. Reschers wichtigste Folgerung: ein Gedankenexperiment ist kein echtes Experiment (das wird in der Literatur immer wieder diskutiert). Denn ein echtes Experiment beobachtet Ereignisse, ein Gedankenexperiment besteht hingegen nicht aus Beobachtung: man sieht sich nicht beim gedanklichen Anordnen der Prämissen zu. Sondern es besteht aus Schlussfolgern und Reflektieren. Entsprechend kann ein echtes Experiment neues Wissen erzeugen, ein Gedankenexperiment aber nicht (S. 12).

WEITERE UNTERSCHEIDUNGEN
Über das Annehmen: Rescher unterscheidet „suppositional reasoning“ und „counterfactual reasoning“. Suppositional reasoning ist solches, wo die Annahme, die das Gedankenexperiment beginnt, eine ist, von der wir nicht wissen, ob sie richtig oder falsch ist, die aber unseren übrigen Überzeugungen (dem Kontext) nicht widerspricht. Rescher spricht auch von „agnostic thought experiments“ oder davon, dass sie „belief supplemental“ seien. Counterfactual reasoning geht von einer Annahme aus, die sich im Widerspruch zu unseren Überzeugungen befindet, entsprechend ist es „belief conflicting“. Bsp.: ‘Nehmen wir an, der Mond wäre aus grünem Käse.’
Über den Kontext: Ohne Kontext und ohne ergänzenden Rahmen von Überzeugungen („the background of relevant information“, S. 11) haben Gedankenexperimente keine Bedeutung. Wie bedeutsam der Kontext ist, macht Rescher daran deutlich, was passiert, wenn die Schlussfolgerung (das 3. Element oben) allein aus der Annahme (1. Element) folgt. Bsp. ‘Angenommen, es sind 50 Leute im Raum. Dann sind jedenfalls mehr als 40 Leute da.’ Das ist total wahr und total uninteressant. – Rescher ist hier etwas unscharf; die „relevanten Informationen“ umfassen sowohl Überzeugungen, die nur das experimentierende Subjekt haben kann, als auch geteilte Überzeugungen. Sein Beispiel: ‘Wenn Johnny härter gearbeitet hätte’ ist die Annahme. Der Experimentator denkt, dass Johnny durchaus ein fähiger Mensch ist und kommt zur Schlussfolgerung: ‘dann hätte er das Examen geschafft.’ Mit einer anderen Überzeugung wie ‘Johnny ist unfähig’ würde seine Schlussfolgerung aber lauten: ‘selbst dann hätte er das Examen nicht geschafft’. (Reschers Bemerkung zur wissenserhaltenden Natur von Gedankenexperimenten hat auch mit dem Kontext zu tun – es kann sein, dass Gedankenexperimente helfen, stille Annahmen des Kontextes hervorzuheben und damit diskutabel zu machen.) Rescher vertritt also: Nihil informatio ex nihilo. :-) Entsprechend kann man ein Gedankenexperiment auch nicht wirklich „durchführen“, sondern nur durchdenken. Die Beziehung zwischen Annahme und Schlussfolgerung ist schließlich eine logische. Und weil diese eine logische ist, hängt das Ergebnis auch nicht vom Experimentator ab; Rescher will darum das gedankliche Experimentieren nicht als Introspektion verstanden wissen (S. 18). Es diene auch nicht dazu, unsere Intuitionen (z.B. in entlegenen Fällen) abzufragen (S. 19). Da wird Rescher sogar fordernd: „something which it ought not to be“.


Rescher bemerkt noch, dass es ein paar weitere Gliederungsmöglichkeiten für Gedankenexperimente gibt: a) inhaltlich (Philosophie, Wirtschaft, Naturwissenschaft etc.); b) nach der Art, wie man zur Schlussfolgerung kommt (deduktiv, probabilistisch ...), c) nach dem Zweck: zur Unterstützung einer These, zur Widerlegung (als reductio ad absurdum).
Rescher schließt mit einigen Überlegungen darüber, wie Gedankenexperimente fehlschlagen können; die wichtigste Fehlerquelle ist natürlich, dass der Kontext nicht genug spezifiziert ist.

Fazit: Obwohl unübersichtlich vorgetragen, deutlich strukturierter gedacht als Sorensens Buch, wie ich das im Gedächtnis habe. Muss wohl dort mal wieder reinlesen.

2 Kommentare:

  1. Update 13.1.09. Gerade liegt vor mir die von Robert Almeder herausgegebene Festschrift "Rescher studies" (Heusenstamm : Ontos, 2008), in dem Diderik Batens einen Aufsatz "On possibilities and thought experiments" (S. 29-58) über Reschers Position beigetragen hat.

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  2. Natürlich kann ein Gedankenexperiment Wissen erzeugen.

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