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30 September 2005

Die ganze Philosophie in einem Band?

Für mich als Fachphilosophen ist eher die interessante Frage, ob der Brockhaus Philosophie den anderen einbändigen Nachschlagewerken Konkurrenz machen kann. Dabei muss man sich im klaren sein, dass er eine andere Zielgruppe hat: er richtet sich eher an den gebildeten Laien, und er ist kein reines Sach- sondern ein kombiniertes Sach- und Personenlexikon. Über die reine alphabetische Ordnung hinaus bietet er „Infokästen“ zu „Hauptwerken“, und zwölf „doppelseitige, reich illustrierte Sonderartikel“ zu „brisanten Themen der Philosophie.

Was ist brisant? Dass man zu Bioethik Streitbares sagen könnte, ist klar, aber zum „linguistic turn“, zum „Philosophieren“, zum „Wissen“? Der Artikel zum Wissen, illustriert mit zwei Bildern aus einem Labor (schwarzweiß, ein Foto, ein Stich) und dem bekannten Bild vom Kopf aus der Welthalbkugel in den Sternenhimmel), deren Nutzen nicht ersichtlich ist, beschäftigt sich nach einem Verweis auf Sokrates’ „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ –– die pseudogelehrte Fassung des Brockhaus „Eins weiß ich, dass ich nichts weiß“ möchte man gleich ins Arno Schmidtsche übersetzen: „1 weiß ich“ -- tatsächlich mit der aktuellen Frage, unter welchen Bedingungen man von Wissen sprechen darf. Es kommen sogar Gettier-Fälle, wenn auch nicht als solche kenntlich gemacht, vor: also ein Teil der (nicht mehr ganz aktuellen) Diskussion. Bedauerlicherweise endet der Artikel mit der Feststellung, Wissen sei „eine Haltung zur Welt, ein Modus des Für-wahr-Haltens -- und der Inbegriff der Erkenntnis überhaupt“. Damit ist zu wenig gesagt, und auch das Falsche, denn der Begriff unterscheidet sich ja gerade vom Für-wahr-Halten, doch worin?

Es gibt leider keinen Artikel zum Kontextualismus, der einem vielleicht beim Thema Wissen einfällt, es gibt keinen Artikel zum „Kognitivismus“ als Teilgebiet der Ethik, obwohl im Artikel zu MacIntyre von ihm die Rede ist. Die letztere Beobachtung lässt sich verallgemeinern: viele Artikel verwenden Begriffe, die man ihrerseits gern erläutert sähe, nach denen man aber vergeblich sucht. Damit ist das Lexikon nicht sehr geeignet für den philosophischen Laien. In der Tiefe und Genauigkeit der Artikel aber ist es anderen, z.B. meinem Favoriten unter den deutschsprachigen einbändigen Philosophielexika, dem Metzler Philosophie Lexikon, deutlich unterlegen. Die Infokästen sind meist Schnickschnack, die Illustrationen schön bunt, aber nichtssagend -- sehen Sie sich nur mal an, wie „Macht“ illustriert ist. Und muss man „Humanismus“ mit da Vincis Proportionenstudie bebildern?

Ein letztes, auch beim Blättern gefunden: Zum Internalismus gibts einen Infokasten mit dem Gedankenexperiment vom Gehirn im Tank -- einem meiner Lieblingsthemen. Es steht dazu darin, dass Hilary Putnam mit diesem Experiment „den radikalen Externalismus ad absurdum zu führen“ versuchte. In einer Quizshow wäre Brockhaus damit ausgeschieden: denn Putnam versucht mit dem Gedankenexperiment den semantischen -- was „radikaler E.“ ist, kann Brockhaus auch nicht beantworten -- Externalismus (The meaning just ain’t in the head) gerade plausibel zu machen!

PS Auf der Umschlagseite wird eine "ständig aktualisierte Liste mit den wichtigsten Internetlinks" versprochen. Die Liste ist nicht nur nicht besonders gut, es stimmt nicht einmal die auf dem Umschlag angegebene URL -- dass so ein renommierter Verlag keine anständige Weiterleitung hinbekommt, ist schon bedauerlich.

29 September 2005

GUT und BÖSE sind mein

Was halten Sie von einem Buch Nie wieder Lebenshilfe! : Ratgeberfrei in 7 Tagen? Da muss man sich schon ein wenig verrenken, um den performativen Selbstwiderspruch zu vermeiden. Vielleicht als Ratgeber für Ihre Bibliothek?
Ratgeber sind Bestseller. Wer Rat gibt, kann sich dumm und dämlich dran verdienen. Betrachten wir den pekuniären Verdienst als Maßstab der dahinterstehenden Vernunft, dann stehen die Philosophen ihrerseits dumm da. Wie z.B. soll man es nennen, wenn ein professioneller Ratgeber das Wort "tun" großschreibt und sich als Warenzeichen eintragen lässt? Ist das Chuzpe? Hat ein Klügerer schon nachgegeben?
Ich geh gleich hin und trage "HANDELN" ein; und außerdem werde ich wohl DAS GUTE (TM?) und DAS BÖSE (TM?) als mein geistiges Eigentum schützen lassen...

28 September 2005

Computer und Philosophie -- Konferenz 2006 in Trondheim

Dafür gibt's eine Gesellschaft (IACAP), die eine europäische Sektion hat, die eine Konferenz organisiert, und zwar im Juni 2006, in Trondheim. Gerade läuft der Call for papers. Näheres dazu auf deren Seiten.
Übrigens gibt es eine Webseite, die sich nur dem Verzeichnen von Calls for papers widmet: papersinvited.com. Für die Einzeldisziplinen vielleicht nicht allzu hilfreich: aber für's Interdisziplinäre.

22 September 2005

Gruppendenken und Politik: Was politische Parteien mit Platons Höhlengleichnis verbindet

Wenn Gruppen eng zusammenklucken, haben sie eine sich über die Zeit verstärkende Tendenz, die Wirklichkeit auszublenden. Das zeigte der Psychologe Irving Janis in seiner Studie Victims of Groupthink (Boston : Houghton Mifflin, 1972). Seine Beispiele, u.a.: die Japanische Entscheidung, die USA in Pearl Harbor anzugreifen, Nixons Entscheidung, den Watergate-Einbruch zu vertuschen etc. Janis meinte, dass "der soziale Druck, der in zusammenhängenden Gruppen aufgebaut wird", insbesondere der Wunsch, die Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander zu pflegen, eine "Wir-gegen-die"-Metalität aufbaut, die nach und nach ihre Fähigkeit zerstört, die Wirklichkeit realistisch einzuschätzen. Symptome seien u.a. die Illusion der Unverwundbarkeit der Gruppe, die Glaube an die Überlegenheit der eigenen Moral undsofort.
Ich kann bei der Lektüre solcher Sätze kaum umhin, an Kanzler Schröders Auftritt nach der Wahl zu denken: zwar Prozente verloren, aber trotzdem feiern wie ein Sieger. (Der Auftritt der CDU/CSU-Größen ruft dann eher die Geschichte vom Pyrrhus-Sieg in Erinnerung.)
In der dicken Einführung in die Philosophie von Manuel Velasquez (Philosophy. -- 9. Aufl. -- Belmont, CA : Thomson Wadsworth, 2005) wird das Gruppendenken von Janis mit Platons Höhlengleichnis in Verbindung gebracht: "What aspects of Plato's Myth of the Cave can be interpreted as groupthink?" Man möchte die Frage gleich weiterspinnen: Welche Aspekte vom Verhalten der CDU/CSU und der SPD nach der Wahl lassen sich mit dem Höhlengleichnis in Verbindung bringen?

20 September 2005

Hat die marxistische Ethik heute noch etwas zu sagen?

Wer hätte gedacht, dass noch Bücher zur Marxistischen Ethik erscheinen? Ohne die genauer zu kennen, gehen bei mir schon ein paar Schubladen auf: Objektivistische (=kognitivistische) Theorie, utilitaristisch, von der marxistischen Orthodoxie verdorben.
Das letztere kann vermutlich von neueren Veröffentlichungen nicht mehr gesagt werden, zumal, wenn sie gleich vom Klassenfeind verfasst werden. Mir liegt jedenfalls gerade Marxist Ethics : a short exposition (da beim Verlag International Publishers keine Produktseite vorliegt, hier der Link auf eine Buchhandelsseite) von Willis H. Truitt vor. Der ist seit 1968 Professor an der University of South Florida in Tampa, kein Arbeiter der Faust also. Ich habe beim Reinblättern schon etwas Wesentliches darüber gelernt, was marxistische Ethik sein könnte. Truitt wirft nämlich Robert Nozick als typischem Vertreter akademischer Moralphilosophie vor, seine Ethik beschäftige sich im wesentlichen mit Rechten, nicht mit Bedürfnissen. Sie sei darum dazu angetan, den Status quo zu erhalten: eine Ethik der Reichen. Ein harter Vorwurf; dem man am besten begegnet, indem man klärt, wie sich denn das moralische Handeln des Einzelnen zur Gesellschaft verhält. Andernfalls läuft man Gefahr, im universellen "Denke daran, dass du Schuld bist an allem Entsetzlichen, was fern von dir passiert" unterzugehen.
Zur Praxis marxistischer Ethik eine kleine Erinnerung: Anfang der neunziger Jahre habe ich in Göttingen studiert. Nach dem Fall der Mauer waren viele Bücher aus der DDR auf dem Antiquariatsmarkt gelandet; ein typisches Angebot waren die Stände vor dem Eingang zur Mensa und zum zentralen Hörsaalgebäude. Dort fand ich auch eines Tages eine "Marxistische Ethik", die in der DDR verfasst und gedruckt worden war. Ein Stempel drinnen zeigte, dass es sich um ehemaligen Bestand aus der Grenztruppenbücherei der NVA handelte, den Ort habe ich vergessen. Schön, dass die Truppen sich (überhaupt!) mit Ethik beschäftigt haben. Bedeutet das nicht ein gewisses Niveau ihres moralischen Standpunkts -- unbedingt nötig angesichts ihrer moralisch schwierigen Tätigkeit des Bewachsens der deutsch-deutschen Grenze? Es war ein Leihzettel hineingeklebt, in den die Ausleihen eingestempelt werden sollten. Das Buch war kein einziges Mal ausgeliehen worden.

Zur philosophischen Herausforderung des Marxismus vgl. auch H. B. Acton, The Illusion of the Epoch, in der schönen Online Library of Liberty.

19 September 2005

Kreativer Kongress, 26.-30.9. in Berlin

In ein paar Tagen (26.9.) beginnt der 20. "Deutsche Kongress für Philosophie" an der TU Berlin. Also auf! Unter "Kreativität" lässt sich schon so einiges summieren. Die Sektion 5 widmet sich etwa dem Thema "Verstehen und Erfinden - die Kreation von Sinn als hermeneutisches Problem". Bei solchem Sprachgebrauch liegt es nahe, den Autor als 'Gott' seines Textes zu denken.
Spannend finde ich ein paar der Fragen, die wirklich dem Thema Kreativität gelten. Ist Kreativität mit einem deterministischen Weltbild vereinbar? (Sektionen 13 und 15 I). Was gilt als kreativ, wann ist etwas neu? (Sektion 11) Der Frage, ob Computer kreativ sein können, widmet sich neben einer Sektion auch ein Kolloquium, der Untertitel: "Möglichkeiten und Grenzen des Computermodells des Geistes". Geht also eigentlich um uns, nicht um die blechernen Geschwister. Für mich stellt sich da die Frage, ob Kreativität die Fähigkeit ist, etwas Unvorhergesehenes zu schaffen, oder die, etwas Unvorhersehbares. Und wie würde man den Unterschied erkennen? Hoffen wir, dass es originelle Gedanken zu hören (und später zu lesen) gibt.
Der öffentliche Festvortrag am Dienstagabend wird übrigens von John Searle kommen: "What is Language?" Damit beschäftigt sich Searle schon seit seinen philosophischen Anfängen, er kennt sich aus!

15 September 2005

Neuer Nonkognitivismus und Was uns die Geschichte der Philosophie angeht

Ich hatte gedacht, der Nonkognitivismus wäre tot: die Theorie, dass moralische Sätze weder wahr noch falsch sind, sondern Einstellungen oder Appelle ausdrücken. Mark Eli Kalderon vertritt in seinem neuen Buch Moral Fictionalism (Oxford : Clarendon, 2005) eine höchst lebendige neue Version. Ihm zufolge ist die Aussagesatzform moralischer Äußerungen keine verkappte Kundgabe moralischer Einstellungen, die also durch eine direkte Äußerung dieser abgelöst werden könnte. Was ist sie dann? Lesen Sie selbst!

[[Nachtrag 29.11.05: Kalderon, beinahe ein Anagramm seines Verlags, hat ein Buch herausgegeben, dass die Fictionalism als ganzen darstellt, mit Literaturhinweisen: Fictionalism in Metaphysics auch gerade erschienen.]]

Mein zweiter Hinweis gilt einer feinen Aufsatzsammlung, die sich einer zwischen den Anhängern "kontinentaler" und "analytischer" Philosophie hin und wieder aufflammenden Frage widmet: Welche Rolle spielt die Geschichte der Philosophie für die Beschäftigung mit Philosophie überhaupt? Ist das Antiquarianismus, also für das systematische Interesse überflüssig? Sind die Alten wie Zeitgenossen zu behandeln, die uns eine Menge beibringen können? Oder hat das Studium der Geschichte auch dann ein Recht, wenn die philosophischen Fragen und Antworten der Alten als überholt betrachtet werden können? Antwortversuche für diese die analytische Philosophie weitaus mehr bedrängende Frage in: Tom Sorell, G. A. J. Rogers (Hg.): Analytic philosophy and history of philosophy ( Oxford : Clarendon, 2005).

Die Bedeutung eines Wortes ist nicht mehr der Gegenstand?

Wittgenstein beginnt bekanntlich die Philosophischen Untersuchungen mit dem Rückbezug auf die Theorie der Bedeutung, die Augustin in seinen Konfessionen skizziert: ein sprachliches Zeichen bezieht sich auf einen Gegenstand. Davon setzt Wittgensteins Gebrauchstheorie sich ab, auch indem sie ganze Sätze und deren Zusammenhang, deren Verwendungskontext betrachtet. Aber mit dem Blick auf den größeren Kontext bleibt die Frage, was denn das einzelne Wort oder der einzelne Name bedeutet -- und daran anschließend, wie sich Namen von wirklichen Personen bzw. Gegenständen und solche von erfundenen unterscheiden. Dafür taugt die Gebrauchstheorie nur bedingt.
Eine einflussreiche neuere Theorie ist der Externalismus, für den z.B. Hilary Putnams bekannte Gedankenexperimente vom Gehirn im Tank und von der Zwillingserde und Tyler Burges Arthritis-Gedankenexperiment stehen. Kern der Idee ist: "The Meaning just ain't in the head", wie Putnam sich ausdrückt. Zurück zu Augustin?
Jetzt hat Mark Sainsbury (R.M. Sainsbury), Professor an der University of Texas in Austin, eine Summe seiner Beschäftigung mit der Theorie der Bedeutung vorgelegt, mit dem vielversprechenden Titel Reference without referents (Inhaltsverzeichnis hier). Hauptthese: Die Bedeutung von Ausdrücken wird am besten durch die Beschreibung von den Bedingungen erfolgreicher Bezugnahme angegeben, nicht durch die Mitteilung, worauf sich der Ausdruck bezieht. Mit dem Problem nichtexistenter Referenten braucht sich Sainsbury dann nicht herumzuschlagen! -- Es lohnt sich auch der Blick in Sainsburys online zugängliche Preprintversion seines Artikels (PDF) für das Oxford handbook of Philosophy of Language.

14 September 2005

Wissenschaftliche Aufrichtigkeit, oder: Wie man mit paranormalen Erfahrungen umgeht

Susan Blackmore ist eine sehr interessante Persönlichkeit. Ich wurde soeben durch ihr Buch Consciousness : an Introduction (Oxford : UP, 2004) auf sie aufmerksam, ein kenntnisreicher und wohlgeordneter Überblick, gut zu lesen, der einen so richtig ins Grübeln bringen kann.
Vielen ist sie vielleicht als Autor eines Bestsellers über Meme bekannt, das Buch gibts auch auf deutsch; oder vom ZEIT-Artikel 1996. Im Bewusstsein-Buch gibt ein kurzer Lebenslauf an, dass Blackmore als Studentin in Oxford "a dramatic out-of-body experience" hatte. Für sie genug Motivation, Parapsychologin zu werden und sich der wissenschaftlichen Erforschung dieser und ähnlicher Erfahrungen zu widmen. Die Forschung bestand aus lauter fehlgeschlagenen Experimenten, so dass Blackmore in der Folge skeptisch wurde, was die Existenz paranormaler Phänomene angeht. Stattdessen wandte sie sich der Frage zu, welche Erfahrungen Menschen dazu bringen, ans Paranormale zu glauben. So führte ihr Interesse, man möchte sagen: logisch, zur Frage des Bewusstseins. Voraussetzung ist aber ihr bewundernswert ehrliches Eingeständnis des Scheiterns, eine andere, eine äußere Erklärung für das Erlebnis zu finden.
Ich habe den Eindruck, dass Blackmore eine ähnliche Theorie wie Thomas Metzinger vertritt, der Mainzer Philosoph, für den Bewusstsein ebenfalls etwas Gemachtes ist. Leider gibts Blackmores Buch noch nicht auf deutsch, dafür bietet aber ihre Homepage reichlich online zugänglichen Lesestoff!

13 September 2005

Der Oligograph Schopenhauer und sein Verleger

Bekanntlich wollte Schopenhauer an seinen Büchern kein i-Tüpfelchen verändert wissen. Dass dies bei ganz eigener und schwer lesbarer Handschrift für den Verlag eine besondere Herausforderung ist, steht außer Frage. Hinzu tritt das schwierige Verhältnis Schopenhauers zur Öffentlichkeit, die sich lange mehr für die Philosophie seines, darf man "Erzfeind" dazu sagen?, erfolgreicheren Konkurrenten Hegel interessierte.
Die wechselvolle Beziehung Schopenhauers zu seinem Verlagshaus F.A. Brockhaus hat nun der Buchwissenschaftler (Uni Mainz) Alfred Estermann nachgezeichnet, unter dem vielsagenden Titel Schopenhauers Kampf um sein Werk : der Philosoph und seine Verleger (Insel, Frankfurt am Main 2005). Estermann war lange Leiter des Schopenhauer-Archivs in Frankfurt und ist ein exzellenter Kenner. Das Buch bietet eine Fülle von funkelnden Zitaten aus dem Briefwechsel.
Der Perlentaucher gibt wie immer eine gute Übersicht über die Rezensionen.

12 September 2005

Sollten Alkoholkranke bei Lebertransplantationen benachteiligt werden?

Konkrete moralische Fragen sind für die Didaktik der Philosophie bzw. der Ethik etwas Feines. Jedenfalls dann, wenn es sich um echte Fragen handelt. Ob Antigone ihren Bruder hätte begraben sollen oder lieber dem Befehl des Onkels folgen, ist so wenig spannend wie die Frage, ob ein "Glücksmonster" den Utilitarismus als ethische Theorie fragwürdig macht.
Nein, die Beispiele müssen aus dem Leben gegriffen sein. Wie dieses: Der häufigste Grund für Leberversagen ist die alkoholbedingte Leberzirrhose. Es gibt weitaus weniger Spenderlebern als Leute, die eine brauchen. Wessen Leber versagt, der stirbt, wenn er keine bekommt. Laut einigen Untersuchungen haben Alkoholiker, die eine Leber gespendet bekommen, eine geringere Lebenserwartung als Organempfänger, deren Leber aus anderen Gründen versagt hat. Vor diesem Hintergrund fragten -- nachzulesen 1991 (Heft 265) im JAMA, dem Journal der American Medical Association, und 2005 in der sehr gut aufbereiteten und didaktisch brauchbaren Anthologie Consider Ethics -- Alvin H. Moss und Marc Siegler, ob Alkoholiker mit Leberversagen die gleiche Chance wie andere haben sollten, eine Organspende zu erhalten. Sie meinten: nein.
Dem widersprachen Carl Cohen und Martin Benjamin mit einer sorgfältigen Analyse der Argumentation von Moss / Siegler (im gleichen Heft des JAMA bzw. in der Anthologie ebenfalls). Kern des Gedankens: Der auf den ersten Blick attraktive Gedanke, ein moralisches Kriterium -- wenn man Alkoholismus als moralischen Fehler betrachtet, da jeder für sein Trinken selbst verantwortlich ist -- für die Verteilung eines medizinischen Gutes, die Spenderleber, einzuführen, hält ihrer Meinung nach der nüchternen Überprüfung nicht stand. Interessant scheint mir darüberhinaus, dass Cohen und Benjamin auch der Frage nachgehen, ob die erwartete negative Reaktion der Öffentlichkeit, wenn Alkoholiker Spenderlebern erhalten, einen Grund liefern könnte, ihnen die medizinische Maximalversorgung zu verweigern. Sie bringen also noch eine politische Dimension ins Spiel; der Fall bietet darum die Komplexität und Vielseitigkeit, die Nachdenken über Moral spannend macht.

10 September 2005

Gibt es ein Leben nach dem Tod?

Man sollte danach nicht die Theologen bzw. religiöse Leute fragen, die sind schließlich voreingenommen. Aber wenn ein Empiriker die Sache untersucht, könnte etwas dabei herauskommen. David Lester -- nicht der Schauspieler, auch nicht der Computerwissenschaftler, sondern der Psychologieprofessor aus New Jersey -- bedient sich der Methoden von Sozialwissenschaften, Psychologie und anderer. Wieviel spricht wirklich für ein Leben nach dem Tod? Reinkarnation, Nahtoderfahrungen, Geisterscheinungen -- zählen die als Beleg? Spielt es eine Rolle, dass verschiedene Theorien über das Leben nach dem Tod einander ausschließen?
Je nachdem, ob man ein Leben nach dem Tod für etwas Erstrebenswertes hält oder nicht, kann man das nüchterne Fazit Lesters am Ende von 214 Seiten mehr oder weniger gelassen hinnehmen: "In summary, then, the research reviewed in this book fails to be convincing that there is a life after death". Das heißt, wohlgemerkt, nicht, dass es kein Leben nach dem Tod gibt: sondern nur, dass es keinen Beweis dafür gibt.

06 September 2005

Grundzüge des Jenaer Skepticismus

Als Jena noch eine Haupststadt der deutschen Philosophie war, das waren noch Zeiten! Weil ich nicht allzuviel darüber weiß -- natürlich kennt man die großen Namen des Hegel, Fichte, Schiller und die Jenaer Romantiker --, bin ich sehr angetan von der mit zahlreichen weiteren Dokumenten und Erklärungen versehenen Wiederveröffentlichung der kleinen Schrift Grundzüge des neuesten Skepticismus (1802) von Johann Friedrich Ernst Kirsten. Das Bändchen, eine Frucht des SFB Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800, erfreut mit seiner ausführlichen historischen Einführung und dem gründlichen Kommentar. Man erfährt etwas über den historischen Ort des von Kirsten nach Schulze -- wer war das bloß? -- vertretenen Skeptizismus und seinen Beitrag zum Skeptizismus-Streit 1800-1806. Herausgegeben von Brady Bowman und Klaus Vieweg, München: Fink 2005.

05 September 2005

Kontextualismus besiegt Skeptizismus durch technischen K.O.

Können wir etwas über die Welt wissen? Der Skeptiker sagt "Nein", denn um etwas zu wissen, müssten wir sicher sein, dass wir nicht träumen (Descartes) oder Gehirne im Tank sind (Putnam). Der Mooreaner sagt: "Ja", denn Skeptizismus ist sinnlos. Der Kontextualist sagt "Jein".
Kontextualismus ist eine neuere unter den Theorien von Wissen und Wahrheit, und sie wird einflussreicher. Vor ein paar Jahren noch schien die Idee, dass die Standards dessen, was Wissen ausmacht, vom Kontext abhängen sollten, in dem Wissen gefragt ist, etwas sehr relativistisch zu sein. Inzwischen gewinnt diese Konzeption Anhänger. Die neuesten Ideen und Standpunkte sind nun zusammengefasst im aktuellen Band der Grazer Philosophischen Studien 69 (2005) (Inhaltsverzeichnis). Man begegnet alten Bekannten in Igour Douvens A contextualist solution to the Gettier problem und findet möglicherweise neue Freunde in Tim Blacks und Peter Murphys Avoiding the dogmatic commitments of contextualism (hier online als Preprint-PDF). Wer darin Keith DeRose vermisst, den ich zumindest als seit Jahren eifrigen Vertreter des Kontextualismus schon kannte, findet hier seine neuesten Arbeiten als Preprints.

04 September 2005

Gedankenexperimente zum Thema Intelligent Design

Die Frage, ob die Welt von einem Schöpfer planvoll gestaltet wurde, hat Philosophen schon beschäftigt, bevor das Kansas School Board sich der Frage annahm (siehe meinen Post vom 24.8.). William Paley bat 1802 in seinem Buch Natural Theology, or Evidences of the Existence and Attributes of the deity collected form the Appearances of Nature seine Leser, sich folgendes vorzustellen: Stellen Sie sich vor, als Sie einen Weg überqueren, stolpern Sie über einen Stein und nehmen dies zum Anlass zu fragen, wie der Stein auf den Weg kamen. Nach allem, was Sie sehen können, kann der Stein schon immer da gelegen haben. Aber wie verhält es sich, wenn sich's um eine Taschenuhr handelte?
Klarerweise, meint Paley, würde die Künstlichkeit und deutlich erkennbare Zweckbestimmung der Uhr uns erkennen lassen, dass sie nicht schon immer an dieser Stelle lag, sondern, z.B., von jemandem verloren wurde, denn "The watch must have had a maker". Nach Paley zeigt die natürliche Welt in ihrer Anlage ebenso (und sogar mehr als die Uhr) Züge einer Zweckbestimmung, so dass er dort zum analogen Schluss kommt. Das ist das "argument from design", welches die Intelligent Design-Theoretiker neu aufwärmen.

Humes Kindgott

In der schönen Sammlung "What if... Collected Thought Experiments in Philosophy" von Peg Tittle (Pearson / Longman 2004) finden sich neben Paleys zwei weitere Gedankenexperimente -- aber auf der anderen Seite. David Hume fragt in seinen Dialogues concerning natural religion: Stellen Sie sich vor, jemandem mit beschränkter Intelligenz würde beigebracht, seine (d.h. unsere) Welt wäre das Werk eines wohlwollenden und erhabenen Gottes. Er wäre vielleicht erstaunt, weil die Welt ja auch Mängel und Übles aufweist, aber er würde von dieser Meinung nicht abstehen, weil ihm zugleich klar ist, wie beschränkt seine Verstandeskraft ist: immer könnte es gute Erklärungen für die Mängel geben, die ihm bloß zu hoch sind.
Aber was wäre, wenn so jemand nicht mit dem Vorurteil der göttlichen Schöpfung imprägniert würde, sondern der Welt naiv begegnete? Käme er dann wohl auf die Idee, dass die Welt das Werk eines gütigen und allmächtigen Schöpfers ist?
Hume meint: Nein. Eher käme man ob des mangelhaften Designs der Welt auf die Idee, sie sei "the first rude essay of some infant deity, who afterwards abandoned it, ashamed of his lame performance". -- Humes Gedankenexperiment hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die "Intelligent Design"-These, in der gegenwärtigen Diskussion bloß wahrgenommen als eine Alternative Erklärung, die Theodizee-Frage aufleben lässt. Wer vertritt, dass ein Schöpfer sichtbar die Welt zum Guten geschaffen hat, der muss schon erklären können, warum dieser Schöpfer nun die Welt im Übel allein lässt: jedenfalls dann, wenn der Schöpfer als allmächtig (er kann handeln) und allgütig (er wird kein unnützes Leiden zulassen) vorgestellt wird.

Wisdoms unbeaufsichtigter Garten
Ein zweites schönes Gedankenexperiment in diesem Zusammenhang stammt von John Wisdom (1904-1993) und ist etwas jünger (Proceedings of the Aristotelian Society 45 (1944-45), 185-206): Zwei Leute kehren nach langer Abwesenheit zu einem unbeaufsichtigten Garten zurück. Neben reichlich Unkraut finden sie ein paar der alten Pflanzen erstaunlich schön weitergewachsen. Einer der beiden meint, das müsse auf die absichtliche Pflege durch einen Gärtner zurückzuführen sein. In der Nachbarschaft hat aber, wie sich nach Fragen herausstellt, niemand einen Gärtner bemerkt. Das ficht den einen nicht an: Der Gärtner kommt eben immer nachts, wenn die andern schlafen. Und das Unkraut, warum hat er das nicht entfernt? Der andere geht darauf nicht ein, sondern verweist auf die Anlage der Pflanzen. Usw.
Wisdom meint, dass die beiden jeweils das gleiche über den Garten wissen, trotzdem glaubt der eine an den heimlichen Gärtner, der andere nicht. In diesem Gedankenexperiment gibt es keinen Test, der die Theorie vom heimlichen Gärtner widerlegen könnte. Für einen kritischen Rationalisten à la Popper wäre das Grund genug, die Theorie fallenzulassen.

01 September 2005

Langweilen Sie sich?

Dann beschäftigen Sie sich doch mit dem Diskurs der Langeweile. In Elizabeth S. Goodsteins Diss, grad erschienen (Experience without qualities : boredom and modernity, Stanford/CA : Stanford UP 2005), wird dieser rekonstruiert. Allerhand neues und spannendes bietet der kulturgeschichtliche Blick. Der Untertitel des Buches verdankt sich der Entdeckung, dass die Langeweile im 19. Jahrhundert ein neues Gesicht bekommen hat: nämlich als Epidemie, als ansteckende Krankheit. Das liegt am sich wandelnden Selbstverständnis der Menschen wie an den veränderten soziokulturellen Bedingungen. Der Versuch, das Wesen der Langeweile ohne den Hintergrund des Gelangweilten zu bestimmen, muss darum misslingen.
Goodstein widmet sich der Langeweile in der Literatur (bei den Romantikern, Flaubert, Musil) wie in der philosophischen Anthropologie (Simmel, Heidegger). Ein wunderbar belesenes und gut lesbares Buch.
Die Inspiration zu diesem empfing Goodstein, teilt sie im Vorwort mit, in einem Café in Tübingen: nicht weils in der Provinz so langweilig wäre, sondern weil dort das erste von vielen guten Gesprächen stattfand. Da steht also gleich zu Anfang auch das Rezept gegen die Langeweile: ein Café, eine inspirierende Stadt, und ein gutes Gespräch...

PS: Was Google zum Stichwort Langeweile empfiehlt Flirts (1. Treffer) und Zufall (2. Treffer). Diese Beobachtung hat bestimmt eine Moral. Welche?

Induktion, Deduktion, Abduktion und Seduktion

Gerade habich ein schönes Buch über die Abduktion entdeckt. Das ist eine Schlussform, die Peirce in die Logik eingeführt hat; sie bringt dahin den pragmatischen Verstand seiner Philosophie. Die Deduktion dürfte aus den Logikkursen bekannt sein, und mancher wird sich auch noch an Barbara Celarent und ihren Freund Darii Ferio erinnern. Barbara behauptet, dass wenn alle Menschen sterblich sind und Sokrates ein Mensch ist, auch Sokrates sterblich sein müsse. Ob des Gewichts solcher Aussagen ist man versucht, von einem Sylligism zu reden.
Die Induktion ist am Werk, wenn man von dem schwarzen Schaf, dem man im Urlaub beim Wandern übers schottische Moor begegnet ist, schließt: "Oh, in Schottland sind die Schafe schwarz". Wie Sie wissen, würde der Mathematiker fortfahren: "Mindestens ein Schaf ist schwarz in Schottland", und der Philosoph: "Na ja, wenigstens die eine Seite."
Die Abduktion ist der Schluss auf die beste Erklärung; Peirce's Beispiel: Alle Bohnen aus dem Sack sind weiß. Diese Bohnen sind weiß. Schluss: Diese Bohnen stammen aus dem Sack. Das scheint auf den ersten Blick armselige Logik zu sein, aber im Alltag ziehen wir solche Schlüsse vor dem Hintergrund weiteren Wissens, etwa über die Häufigkeit von weißen Bohnen insgesamt, oder gestützt von der Beobachtung, dass die Bohnen direkt neben dem Sack liegen usw.
Douglas Walton, Professor in Winnipeg, führt in seinem neuen Buch Abductive reasoning (Tuscaloa: University of Alabama Press, 2004) in das Thema "Schließen auf die beste Erklärung" ein. Interessant ist es nicht bloß darum, weil es die verschiedenen Formen genauer vorstellt und die Begriffe klärt, sondern auch, weil man etwas über den Gebrauch und die Rolle der Abduktion etwa in der Theorie der Künstlichen Intelligenz, der Kognitionswissenschaft und, z.B., der Rechtswissenschaft erfährt.
Abduktion wird allerdings auch häufig dort gebraucht, wo auf irgendeine Erklärung -- nicht notwenig die beste -- geschlossen wird, etwa in parapsychologischen Theorien. Ich schlage vor, für diese den Begriff "Seduktion" zu wählen: Das sei der Schluss auf die (für den Schließenden) verführerischste Entscheidung.
Lustig finde ich, dass Google mir für den Suchbegriff "Seduktion" anbietet: "Do you mean to search for: Education"