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31 Mai 2006

UB Bielefeld gibt Philosophie-Lektüretipps für Anfänger

Das "virtuelle Lehrbuchnetz" der UB Bielefeld ist ein netter Service: man denke sich ein bestimmtes philosophisches Thema, zu dem man eine knappe Einführung braucht. Dann listet es passende Texte auf, die auch für Fachfremde geeignet sind. Zwar sind die verzeichneten Texte auf den Bielefelder Bestand zugeschnitten, aber das meiste davon findet sich auch anderswo.
Gewöhnungsbedürftig ist ein bisschen der Zugang über die "Schlagwörter" -- das sind bibliothekarische Hilfsmittel, die erst im Zusammenhang mit anderen Schlagwörtern den Inhalt eines Buches beschreiben. So empfiehlt das Lehrbuchnetz zum Thema "Abbildung" zwei Aufsätze, der eine ist von Hans A. Froebe: Abbildungen in der Botanik unter spezieller Berücksichtigung der Morphologie, S. 73-104. Nicht gar so das allereinschlägigste, wenn man an die Abbildtheorie Platons (Metaphysik) oder an die ästhetische Frage denkt, wie sich Abbildungen auf die Wirklichkeit beziehen.
Schlagwörter, die sich eindeutiger auf einen bestimmten Sachverhalt beziehen (z.B. solche zu Personen), liefern aber sehr brauchbare Hinweise.

23 Mai 2006

Theodizeen

Unakzeptable Vorschläge:
Es gibt Böses und Leid in der Welt, obwohl Gott existiert, weil
  1. alles zu einem großen Plan gehört, und der Gesamtplan ist gut.
  2. jeder für das Böse in seinem Leben selbst verantwortlich ist durch seine Sünden.
  3. Leiden den Charakter stärkt.
  4. es einen Sinn hat, der unsere Vernunft übersteigt.
  5. wir nicht wissen würden, was gut ist, wenn wir Leid und Böses nicht kennten.
  6. der Teufel das Leid verursacht.
  7. wir getestet werden, ob wir die Seligkeit verdienen.

(Zusammenstellung nach Nils Ch. Rauhaut, The big questions : philosophy for everyone. - Pearson : New York u.a., 2006, S. 298-299)

22 Mai 2006

Always look on the bright side ...

Gary L. Hardcastle, Assistant Professor of Philosophy, lud 2004 die Queen of England ein, zu seinem neuen Sammelband beizutragen: Monty Python and philosophy. Sie wäre sicher der prominenteste Beiträger gewesen; so muss man sich mit der Prominenz des Themas begnügen. Der Verlag Open Court erfreut ja schon länger mit einer Reihe Popular culture and philosophy, deren Band über Harry Potter ich hier schon erwähnt habe. Monty Python eignet sich deutlich besser für die Philosophie, weil das Themenspektrum breiter ist: nicht nur Ethik und politische Philosophie, auch die hohe Schule der Erkenntnistheorie, Logik, nicht zu vergessen: Religionsphilosophie kann hier nachvollzogen werden. Zu schade, dass keine Beigabe in Form einer DVD mit Beispielclips dabei ist! Dann hätte man noch besser nachvollziehen können, woran George A. Reisch "Monty Python's utterly devastating critique of ordinary language philosophy" festmacht, und sich besser erinnern können, was einen am Flying Circus schon immer an Sartre erinnerte.

Als Kostprobe Hardcastles Vortrag "Themes in Contemporary Analytic Philosophy
as Reflected in the Work of Monty Python" hier online.

Wer wie was gelesen hat: Kulturphilosophen und die Literatur

Die Festschrift für Wolfgang Emmerich, den ich vor allem als Rowohlt-Monographen für Paul Celan und als Verfasser der (gar nicht) Kleinen Literaturgeschichte der DDR kenne, ist ein wahres Fest für Freunde des im Titel genannten Themas. Denn sie enthält "Porträts literarischer Lektüren", ihr Titel: Kulturphilosophen als Leser (erschienen bei Wallstein, Göttingen, 2006, hg. von Heinz-Peter Preußer und Matthias Wilde). Wie Nietzsche Sophokles gelesen hat (Uwe Spörl), ist vielleicht noch nicht so interessant, weil wohlvertraut. Helmut Lethen schreibt über Carl Schmitts Kafka-Lektüre; Matthias Wilde untertitelt seinen Aufsatz "Walter Benjamin liest Lesskow -- und vergisst Döblin": wie kommt's, dass der emphatische Verteidiger der Avantgarde in seiner Lektüre im 'Erzähleraufsatz' so "kulturkonservativ" ist?

Das Buch ist eine gelungene Mischung aus den üblichen Verdächtigen (Hannah Arendt und Uwe Johnson, Paul de Man und Kleist) und weniger oft behandelten (Alexander Kluge liest Heiner Müller, Martha Nussbaum liest Beckett) oder neueren (Aleida Assmann liest Martin Walser); geschrieben mit -- wie sonst? -- gut gelaunter Belesenheit.

21 Mai 2006

Hilfe bei der Literaturverwaltung

Nicht jeder schreibt so viel über das Geschriebene von anderen Leuten, dass sein Überblick gefährdet ist. Aber wer hin und wieder das Gefühl hat, dass er a) nicht mehr genau weiß, welche Kopien in welchen Ordnern liegen, oder b) welches Zitat noch mal woher stammt, oder c) den gesuchten Aufsatz in den zig Einträgen der Liste nicht findet, dem könnte ein Literaturverwaltungsprogramm helfen. Angeregt vom Eigenbedarf habe ich ein paar auf dem Markt befindliche für Windows-PCs getestet. Der Test ist recht ausführlich geraten und nachzulesen bei IASL online. Dort auch ein paar andere interessante Links zum Thema.

15 Mai 2006

Ein Recht auf Blasphemie?

Das hängt davon ab, ist die Standardantwort auf solche Vorschläge.
Im Philosopher's Magazine, dass auch ordentliche frei zugängliche Artikel bietet, auf die man sich per Newsletter hinweisen lassen kann, schreibt Peter Fosl über ein Thema, das der Streit um die Mohammed-Karikaturen auf die Tagesordnung gesetzt hat. Wie ist eigentlich das Verhältnis zur Blasphemie? Und, ihm wichtiger: Wie sollte es sein?
Fosl findet, dass Blasphemie etwas Gutes ist. Er meint, es sei nicht akzeptabel, dass in einer modernen Demokratie religiöse Gemeinschaften einerseits einen Rieseneinfluss auf die politische Meinung ihrer Angehörigen ausüben und damit einen realen Machtfaktor darstellen, andererseits aber nicht die Behandlung ertragen wollen, die mit dem Machtausüben einhergeht, wie z.B.: Gegenstand von Spott werden. Letzterer ist aber ein wichtiger Bestandteil der öffentlichen Kultur. Die Tabus von anderen zu befolgen wäre nicht Respekt, sondern "submission", zitiert Fosl Flemming Rose, einen Editor des Jyllands Posten, die alles ins Rollen brachte. Desweiteren ist es Fosl wichtig, dass ab und zu der spezielle Anspruch der Religionen auf die Wahrheit in der Politik infragegestellt wird.

Was meinen Sie?

13 Mai 2006

Kant in Frankreich

Wenn der Gegensatz zwischen kontinentaler und analytischer Philosophie begriffen werden kann, wie Cutrofello meint, als das Antreten unterschiedlichen Erbes von Kants Philosophie, dann ist sicher der Blick darauf, wie die entsprechende philosophische Tradition mit Kant umgegangen ist, besonders interessant. Wie Kant in Frankreich gewirkt hat, darüber gibt es jetzt zwei neue Bücher: das eine dokumentiert einen Kongress und heißt Kant et la France, hg. von Jean Ferrari; hier eine Kurzbeschreibung (pdf) des Verlags. Das andere: La pensée de Kant et la France, von André Stanguennec. Stanguennec geht auch auf die französischen Einflüsse auf Kant ein, bevor er etwa 20 Seiten seines kurzen Bändchens der Nachwirkung Kants in Frankreich widmet, nicht nur im 20., sondern auch im 19. Jahrhundert.

10 Mai 2006

Freud als Philosoph

Gehört Sigmund Freud überhaupt in die Philosophie? Sicher, Wittgenstein hat ihn gelesen, und die Vertreter des Wiener Kreises bestimmt auch, schließlich war Freud auch en vogue. Zudem hat eine psychologische Betrachtung (z.B. Franz Brentano) eine gewisse Tradition in der Philosophie. Um die Frage ernsthaft zu entscheiden, gehört sicher mehr Geduld dazu, sich in seinem Werk zu vertiefen, als ich aufbringe. Da kommt ein Buch wie das von Jonathan Lear (Info hier, scrollen) gerade recht. Es heißt schlicht Freud und ist in der Reihe Routledge Philosophers erschienen -- Routledge hat für sich die Frage schon beantwortet. Ein solches Buch ist nützlich, weil es einem nicht nur das Vertiefen abnimmt, sondern auch beim Entdecken hilft: wo Freudsche Theorien in anderen Zusammenhängen sinnvoll einzubringen sind. Dass Lear ein Kapitel den "Principles of mental functioning" widmet, liegt nahe; dass man auch etwas zu "Morality and religion" bei ihm lesen kann, entspricht ja Freuds Interessen. Gern hätte ich noch etwas zum Humor gelesen -- und zur Einordnung in die philosophischen Theorien des Humors.
Falls es welche gibt.

08 Mai 2006

Paradoxien leichtgemacht

The real is unknowable, the knowable is unreal -- das ist der Titel eines neuen Buches von Robert Powell; Dr. Robert Powell, sollte ich schreiben. Auf der Titelseite versichert uns Dr. Deepak Chopra, Dr. Powell sei "one of the world's most inspired writers" ... dort steht auch, worüber, aber das ist ja eigentlich uninteressant.
Dass Philosophie auch Lebenshilfe ist, sieht man bei solchen Büchern schnell am Dr. vor dem Autornamen; manche Verlage gehen ja so weit, dies nicht nur im "Über den Autor" zu vermerken; North Atlantic Books hält sich da noch zurück. Bei solchen Superlativen muss ich immer an Neil Gaimans Buch über Douglas Adams denken, das einen Haufen positiver Kritiken von Mitgliedern von Monty Python auf dem Buchrücken hat, u.a. "das wichtigste Buch zu ... das ich seit Sonnenaufgang gelesen habe". --
Das einleitende Zitat ist eine Pfennigsweisheit: im Dutzend billiger. "Das Wahre ist das Unschöne, das Schöne ist das Unwahre." Oder auch: "Das Wahre ist unsagbar, das Sagbare ist nicht wahr." "Das Künstliche ist tot, das Untote ungekünstelt." Ups. Weitere Rezepte für Tausendundeinen Aphorismus?

Litauische Philosophie der Gegenwart ... und anderswo

Was machen eigentlich die Philosophen in Polen? Litauen? Nigeria?
Gut, die Neugier der meisten systematisch arbeitenden ist begrenzt, weil dies keine systematische Fragestellung ist. Aber vielleicht mangelt es auch an einem einfachen Zugang. Da kommt eine Serie wie die "Cultural Heritage ..." gerade recht: die Bücher erscheinen auf Englisch, die Texte sind zur Zeit als HTML auf der Webseite von CVPR verfügbar. Dort gibt es alles, was das Herz begehrt. Contemporary philosophical discourse in Lithuania (wo man in der Einführung lesen kann, dass Kant litauische Vorfahren hat), oder The filipino mind.

Ansehen!

Molyneux' Problem

John Locke gibt das folgende Gedankenexperiment wieder: zum erstenmal in der zweiten Auflage seines Essay concerning human understanding (London, 1694):
Suppose a man born blind, and now adult, and taught by his touch to distinguish between a cube and a sphere of the same metal, and nighly of the same bigness, so as to tell, when he felt one and t'other, which is the cube, which the sphere. Suppose then the cube and sphere placed on a table, and the blind man to be made to see; queare, wheter by his sight, before he touched them, he could now distinguish and tell which is the globe, which the cube?

Die Antwort:
Not. For tho' he has obtained the experience of how a globe, how a cube affects his touch; yet he has not yet attained the experience, that what affects his touch so or so, must affect his sight so or so; or that a protuberant angle in cube, that pressed his hand unequally, shall appear to his eye as it does in the cube.

Problem und Antwort stammen von William Molyneux, dem Gründer der Dublin Philosophical society. Schon damals haben kluge Leute eingewandt, dass eine Kugel dem Blinden den Eindruck von "Gleichheit von allen Seiten" vermitteln könnte -- ein Eindruck, der sich durch Tasten wie durch Sehen, möglicherweise, erkennen ließe.
Das Gedankenexperiment habe ich im 5. Kapitel von David Bermans neuem Buch Berkeley and Irish philosophy gefunden, das seine Aufsätze von 1968-1996 sammelt (London, New York : Continuum, 2005). Berman skizziert die Rezeptionsgeschichte des Gedankenexperiments ein bisschen weiter, auch hin zu Berkeley. Der meinte, dass der sehend gemachte Blinde vermutlich nicht einmal verstehen würde, was man von ihm wollte, also mit der Frage nichts anfangen könnte. Demgegenüber war Hutcheson der Ansicht, dass Sicht und Gefühl die 'gleiche Idee' betreffen und daher durchaus die Ähnlichkeit zwischen Seheindruck und Tasteindruck erkennen lassen. Wie Leibniz war Hutcheson nämlich besorgt, dass die These, der Sehend gewordene könne die beiden Körper nicht unterscheiden, bedeuten würde, er wäre unfähig, Geometrie zu lernen. Das galt beiden als unannehmbar. Warum die Geometrie hier ins Spiel kommt? Für Leibniz wie für Hutcheson war die Grundlage, dass Eindrücke verschiedener Sinne die gleiche Idee betreffen können.
Berman entfaltet schön, wie das alles zusammenhängt. Manche Gedankenexperimente können nicht empirisch nachvollzogen werden -- hier wäre ich doch zu neugierig, ob Berkeley oder Hutcheson recht haben. Ich neige zu der Ansicht, dass der Sehend gewordene das Sehen und die Interpretation von Eindrücken erst lernen müsste. Das heißt, er müsste wohl erst einmal erkennen lernen (in der Hutchesonschen Terminologie), dass genau dieser Seheindruck wirklich mit der Idee der Regelmäßigkeit verknüpft ist.

07 Mai 2006

Philosophische Gedankenexperimente, wie Nicholas Rescher sie sieht

Philosophische Gedankenexperimente sind eines meiner Lieblingsthemen. Die Faszination rührt ursprünglich von der schieren Phantastik und Absurdität mancher, denen ich im Laufe der Zeit begegnet bin, vor allem im Gebiet der Ethik. Das ‘Glücksmonster’ ist so ein Beispiel: erfunden, um gegen den Utilitarismus zu argumentieren.

Denken wir uns ein Wesen, dass Glück (wie auch immer definiert) sehr viel intensiver empfindet als alle anderen. Dann ist es nach dem Utilitarismus möglich, dass eine ganze Gesellschaft daraufhin zu arbeiten hätte, dass dieses Wesen seinen Glückslevel hält, weil so die Glücks-Gesamtsumme am größten ist. Aber das kommt uns ungerecht vor. Also ist der Utilitarismus falsch. (Stimmts?)

Gegen dieses Glücksmonster lässt sich natürlich ebenfalls argumentieren. Aber darum soll’s hier nicht gehen, sondern um Gedankenexperimente als solche. Es gibt inzwischen einen Haufen Literatur zum Thema, Bücher ebenso wie Aufsätze, und das ist längst unübersichtlich geworden. eine bloße Auflistung der Literatur hilft auch nicht viel weiter.
Mich interessieren eigentlich zwei Dinge:
1. Die begriffliche Seite: Was ist ein Gedankenexperiment, was macht es aus?
2. Die Vielfalt: Welche ‘klassischen’ Gedankenexperimente gibt es?
1. und 2. hängen natürlich miteinander zusammen. Denn die begriffliche Reflexion (1.) sollte möglichst nicht gedankliche Experimente ausschließen, die schon auf der Liste stehen (2.). Auf der anderen Seite sind sicher nicht alle Szenen, die in der Literatur als Gedankenexperiment genannt werden, tatsächlich welche.

Kürzlich habe ich in Nicholas Reschers What If? gelesen, der neuesten Publikation zum Thema.

Rescher, Nicholas: What if? : thought experimentation in philosophy. New Brunswick, London : Transaction Publishers, 2005.

Nicholas Rescher ist ein Vielschreiber. Man sieht das auch in diesem Buch über Gedankenexperimente in der Philosophie: gleich im Vorwort verweist er auf zig eigene Publikationen, in denen er sich dem Thema oder einem Aspekt davon schon einmal gewidmet habe. Außerdem sieht der Text aus, als sei er nicht noch einmal Korrektur gelesen worden: die Gedankenfolge wirkt manchmal etwas willkürlich und unsystematisch; es gibt einen Haufen Druck- und Schreibfehler, die zum Teil groteske Züge annehmen. Dass Rescher Roy A. Sorensen – der mit James Robert Brown Gedankenexperimente zuerst zum Thema eines eigenen Buches gemacht hat (von Brown stammt auch der Artikel thought experiment in der Stanford Encyclopedia of philosophy) – zuweilen Sorenson schreibt, ist so einer; dass er einmal auf eine Veröffentlichung von Kripke mit der Jahreszahl „19xy“ verweist ein anderer. Letzteres zeigt, dass er Kripke aus dem Gedächtnis anführt; etwas oberflächlich. Aber die Stärke des Buches liegt nicht in der sorgfältigen Bearbeitung von Forschungsliteratur; das sieht man auch daran, dass er Tamar Szabo Gendlers Buch von 2000 nicht zur Kenntnis genommen hat – die bis dahin systematischste begrifflich arbeitende Studie zum Thema.


RESCHERS THESEN

Die wichtigsten Thesen des 1. Kapitels: Gedankenexperimente sind Formen strukturierten hypothetischen Überlegens.

Ein Gedankenexperiment enthält (S. 7-8)

1. eine Annahme,
2. einen informierenden Kontext (aus Überzeugungen), in den die Annahme eingeführt wird,
3. eine Schlussfolgerung,
4. die große Frage, die das Gedankenexperiment bzw. die Schlussfolgerung beantworten soll,
5. die Argumentation für die Antwort auf die große Frage aus dem ERgebnis des Gedankenexperiments.

Entsprechend, meint Rescher, läuft ein Gedankenexperiment in 5 Phasen ab: Annehmen, Kontext spezifizieren, Schlussfolgerung ziehen, Lektion lernen, einfügen.

Diese Gliederung scheint mir recht überzeugend auf den ersten Blick. Reschers wichtigste Folgerung: ein Gedankenexperiment ist kein echtes Experiment (das wird in der Literatur immer wieder diskutiert). Denn ein echtes Experiment beobachtet Ereignisse, ein Gedankenexperiment besteht hingegen nicht aus Beobachtung: man sieht sich nicht beim gedanklichen Anordnen der Prämissen zu. Sondern es besteht aus Schlussfolgern und Reflektieren. Entsprechend kann ein echtes Experiment neues Wissen erzeugen, ein Gedankenexperiment aber nicht (S. 12).

WEITERE UNTERSCHEIDUNGEN
Über das Annehmen: Rescher unterscheidet „suppositional reasoning“ und „counterfactual reasoning“. Suppositional reasoning ist solches, wo die Annahme, die das Gedankenexperiment beginnt, eine ist, von der wir nicht wissen, ob sie richtig oder falsch ist, die aber unseren übrigen Überzeugungen (dem Kontext) nicht widerspricht. Rescher spricht auch von „agnostic thought experiments“ oder davon, dass sie „belief supplemental“ seien. Counterfactual reasoning geht von einer Annahme aus, die sich im Widerspruch zu unseren Überzeugungen befindet, entsprechend ist es „belief conflicting“. Bsp.: ‘Nehmen wir an, der Mond wäre aus grünem Käse.’
Über den Kontext: Ohne Kontext und ohne ergänzenden Rahmen von Überzeugungen („the background of relevant information“, S. 11) haben Gedankenexperimente keine Bedeutung. Wie bedeutsam der Kontext ist, macht Rescher daran deutlich, was passiert, wenn die Schlussfolgerung (das 3. Element oben) allein aus der Annahme (1. Element) folgt. Bsp. ‘Angenommen, es sind 50 Leute im Raum. Dann sind jedenfalls mehr als 40 Leute da.’ Das ist total wahr und total uninteressant. – Rescher ist hier etwas unscharf; die „relevanten Informationen“ umfassen sowohl Überzeugungen, die nur das experimentierende Subjekt haben kann, als auch geteilte Überzeugungen. Sein Beispiel: ‘Wenn Johnny härter gearbeitet hätte’ ist die Annahme. Der Experimentator denkt, dass Johnny durchaus ein fähiger Mensch ist und kommt zur Schlussfolgerung: ‘dann hätte er das Examen geschafft.’ Mit einer anderen Überzeugung wie ‘Johnny ist unfähig’ würde seine Schlussfolgerung aber lauten: ‘selbst dann hätte er das Examen nicht geschafft’. (Reschers Bemerkung zur wissenserhaltenden Natur von Gedankenexperimenten hat auch mit dem Kontext zu tun – es kann sein, dass Gedankenexperimente helfen, stille Annahmen des Kontextes hervorzuheben und damit diskutabel zu machen.) Rescher vertritt also: Nihil informatio ex nihilo. :-) Entsprechend kann man ein Gedankenexperiment auch nicht wirklich „durchführen“, sondern nur durchdenken. Die Beziehung zwischen Annahme und Schlussfolgerung ist schließlich eine logische. Und weil diese eine logische ist, hängt das Ergebnis auch nicht vom Experimentator ab; Rescher will darum das gedankliche Experimentieren nicht als Introspektion verstanden wissen (S. 18). Es diene auch nicht dazu, unsere Intuitionen (z.B. in entlegenen Fällen) abzufragen (S. 19). Da wird Rescher sogar fordernd: „something which it ought not to be“.


Rescher bemerkt noch, dass es ein paar weitere Gliederungsmöglichkeiten für Gedankenexperimente gibt: a) inhaltlich (Philosophie, Wirtschaft, Naturwissenschaft etc.); b) nach der Art, wie man zur Schlussfolgerung kommt (deduktiv, probabilistisch ...), c) nach dem Zweck: zur Unterstützung einer These, zur Widerlegung (als reductio ad absurdum).
Rescher schließt mit einigen Überlegungen darüber, wie Gedankenexperimente fehlschlagen können; die wichtigste Fehlerquelle ist natürlich, dass der Kontext nicht genug spezifiziert ist.

Fazit: Obwohl unübersichtlich vorgetragen, deutlich strukturierter gedacht als Sorensens Buch, wie ich das im Gedächtnis habe. Muss wohl dort mal wieder reinlesen.

04 Mai 2006

Der gegenwärtige König von Frankreich

hat vielleicht eine Glatze. 1905 erschien zum ersten Mal Russells On denoting (hier online); in den letzten hundert Jahren ist einiges an Diskussion darüber zustande gekommen. Die Titelformulierung dieses Posts -- für alle, die nicht so gut bei den Analytikern zu Hause sind -- ist ein Beispielsatz von Russell, um die Schwierigkeit zu illustrieren, die sich ergibt, wenn man von einer zweiwertigen Logik ausgeht bei der Zuschreibung von Wahrheitswerten zu Propositionen, äh, bei der Frage, ob ein Satz wahr oder falsch ist. Analytische Philosophen, wie der Name schon sagt, pflegen solchen Schwierigkeiten durch eine logische Bedeutungsanalyse zu begegnen. Ist der Satz falsch? Impliziert die Verneinung nicht auch, dass es jetzt einen König in Frankreich gibt?
Das ist vielleicht die geringste der Fragen, die Russell aufgeworfen hat. In aller Ausführlichkeit kann man die 100 Jahre Rezeptionsgeschichte bzw. die Fruchtbarkeit von Russells Fragestellung nun im Sammelband On denoting 1905-2005, hg. von Bernard Linsky und Guido Imaguire nachlesen (Philosophia Verlag München, 2005).

Im Vorwort (S. 11) wird ein "apocryphal tale" mitgeteilt, das in "certain German academic circles" kursiere und das ich hier übersetzt wiedergebe, weil ich herzlich drüber gelacht habe:
Ein Student, der kein großes Interesse an analytischer Philosophie besaß, musste doch zugeben, dass er ein paar nützliche Fakten gelernt habe: dass der Morgenstern der Abendstern sei, dass alle Schwäne weiß seien und dass "Schnee ist weiß" wahr sei genau dann, wenn Schee weiß sei; aber bisher habe er nicht begriffen, ob der König von Frankreich nun eine Glatze habe oder nicht. Immerhin müsse aber der König, um den es hier geht, jetzt über 100 Jahre alt sein, so dass man wohl jetzt getrost annehmen dürfe, falls er mal welche gehabt habe, seien ihm die Haare längst ausgegangen!


Update 8.5.: Auch die Zeitschrift Mind feiert den 100. Geburtstag von On denoting, und zwar mit einem Sonderheft -- Nr. 456, erschienen Oktober 2005, darin z.B. ein Aufsatz von David Kaplan, "Reading On Denoting on its centenary".

Die Geschichte der "Wahrheit"

Markus Enders und Jan Szaif haben soeben ein Buch herausgegeben, das ich schon lange vermisst habe: statt der üblichen systematischen Übersicht über Wahrheitstheorien, wie man sie z.B. von Lorenz Puntel kennt, bieten sie einen Sammelband Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit. Enders lehrt christliche Religionsphilosophie in Freiburg und hat schon Anselms "Über die Wahrheit" (erschienen bei Meiner) übersetzt; Szaif ist Privatdozent in Bonn. In 17 Kapiteln wird eine recht umfassende Geschichte des Wahrheitsbegriff in der abendländischen Philosophie geboten; das Buch taugt daher zugleich als kleine Geistesgeschichte. Besonders spannend ist es, unterschiedliche aber synchron gebrauchte Wahrheitsbegriffe nebeneinander zu halten, wie man das anhand der letzten Kapitel zu Husserl, Heidegger und Gadamer (von Holger Zaborowski) und zur analytischen und pragmatischen Tradition (von Richard Schantz) tun kann. Aber auch in den Kapiteln zur frühen Geschichte lassen sich z.B. Neuplatonismus (Ludwig Fladerer) und Frühes Christentum (Ludwig Böhm) mit Gewinn nebeneinander halten
Der Band versteht sich als "Referenzwerk", und das ist er geworden!

02 Mai 2006

Was ist der Mensch?

Überschriften dieses Typs lassen hoffentlich erahnen, dass hier keine Antworten geboten werden -- aber Hinweise auf Texte mit Antworten. Oder nicht mit Antworten, sondern mit Versuchen, die Frage genau zu verstehen. Oder ...
Philosophische Anthropologie gibt's, seit es Philosophie gibt, aber als eigenständige Teildisziplin hat man wohl erst so richtig Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Arbeit begonnen. Dann kamen Gehlen und Plessner und haben die Diskussion so sehr dominiert, dass eine Zeitlang niemand nennenswert Lust hatte, sich um's Thema zu kümmern. "Aber jetzt ..." haben sich Hans-Peter Krüger und Gesa Lindemann gedacht und gemeinsam den Sammelband Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert (Berlin : Akademie, 2006) rausgebracht, der zugleich der 1. Band einer Reihe Philosophische Anthropologie ist (hier: die Plessner-Gesellschaft hat das Inhaltsverzeichnis abgetippt, unter "2. Aktuelle Forschungsliteratur"). Krüger legt in seinem Beitrag den Fokus auf Plessner, weil das tragfähiger als Gehlen und Scheler sei:
Plessners Philosophische Anthropologie wird inzwischen als der naturphilosophisch-phänomenologische und systematisch mit dem klassischen Pragmatismus (Dewey, Mead) vergleichbare Ausweg aus den Grenzen der sprachanalytischen Dualisierung und der sprachhermeneutischen Denaturalisierung des Menschen als eines spezifikationsbedürftigen Lebewesens rekonstruiert.

Das tue man, "ohne hinter das Niveau an schriftsprachlichen Dezentrierungen des Subjekts (im Sinne von Derrida oder Habermas) zurückzufallen".

Der Band gibt einen guten Überblick über den Stand der Diskussion -- vermute ich, ohne diesen zu kennen. Ach ja: Kontinentaler geht's kaum. Nicht Schrift, nicht Sprache, sondern: der Mensch.