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28 September 2006

Die Alligator-Geschichte

Patrick Baum berichtet in seinem Weblog Philosophus davon, wie die Figuren einer seltsamen Liebesgeschichte mit Alligatoren im Unterricht von Schülern der 12. Klasse beurteilt werden.

Dazu kommentiert Katja:
Ich glaube, das Beispiel zeigt ganz deutlich, dass die moralische Beurteilung eines anderen im Grunde unmöglich ist. Wobei es stimmt, dass wir auch in der Realität das immer wieder versuchen. Wäre es nicht eine Lösung, jeden nach den subjektiven Konsequenzen seiner Handlungen zu bewerten? Wenn Abigail z. B. das Erlebnis mit Sinbad als traumatischer als die Zurückweisung durch Gregory empfunden hat, dann ist er auch (aus ihrer Sicht) am stärksten zu verurteilen.
Weil man sich zum Kommentieren registrieren muss, ziehe ich es vor, hier darauf zu antworten:
Wirklich? In dieser Allgemeinheit? Die moralische Beurteilung eines anderen ist im Grunde unmöglich?
Was die Moral angeht, bin ich Davidsonianer, das heißt: ich glaube nicht, dass man selbst Moral haben kann, wenn man nicht auch das Verhalten anderer moralisch beurteilen kann. Wenn es also unmöglich ist, das Verhalten anderer moralisch zu beurteilen, dann ist es auch unmöglich, selbst moralisch zu sein!
Diese Folge halte ich für absurd. Aber dass das moralische Beurteilen von anderen schwierig ist und nicht immer richtig liegt, ist eine andere Sache.
Die Alligator-Geschichte war mir neu, und hier gilt, wie meist, eine Lektion von Richard Mervyn Hare: Wenn einem die Story komisch vorkommt, kann das ja daran liegen, dass sie zu wenig Details enthält. Zum Beispiel: Hat Ivan ein Boot? Könnte er Abigail so rüberfahren? Warum kann Abigail nicht warten, bis die Brücke wieder aufgebaut ist? Kennt Abigail Slug schon oder ist das eine neue Bekanntschaft? Was weiß Slug?
Usf.
Außerdem muss man sich darüber im klaren sein, dass man schnell mit unbewussten Interpretationen bei der Hand ist:
Die Geschichte behauptet, dass Abigail Gregory liebt, aber ist das eigene Konzept von Liebe verträglich mit der Bereitschaft, mit jemand anderem zu schlafen? Ist das nicht Prostitution und damit moralisch verwerflich? Ist umgekehrt Sindbad ein Erpresser (pfui), oder verkauft er nur Abigail etwas (ok)? Ist jemand, der jemand anderen auf der Grundlage von Hörensagen verprügelt, nicht ein bösartiger Schläger? Usf. Weil die Geschichte unterbestimmt ist, kann man dann natürlich auch trefflich drüber streiten, weil die Lücken unterschiedlich gefüllt werden.

27 September 2006

Im Ernstfall foltern? Rainer Trapp klärt, wie man mit Terroristen umgehen könnte

Dass zwischen Terroristen und ihren staatlichen Verfolgern ein Ungleichgewicht besteht in dem was sie dürfen bzw. sich herausnehmen, war hier schon Thema. Der Osnabrücker Philosoph hat sich jetzt des Themas angenommen in seinem Buch mit dem vielsagenden Titel Folter oder selbstverschuldete Rettungsbefragung? (Paderborn : mentis, 2006; der Link führt auch weiter zu einem Inhaltsverzeichnis als pdf). Ich muss zugeben, dass "Selbstverschuldete Rettungsbefragung" gleich viel netter klingt, weil es ja klarmacht, dass die Übeltäter selbst schuld sind, wenn sie gefoltert, äh, rettungsbefragt werden müssen. Trapps Buch ist jedenfalls ein gründlicher Beitrag zum Thema, der sich auch mit dem gern vertretenen moralischen Spagat von der moralischen Legitimation der Folter im Notfall unter Beibehaltung ihrer Rechtswidrigkeit auseinandersetzt. Trapp sucht zu zeigen, dass ein verantwortlicher Rechtsstaat die Anwendung von Gewalt gegenüber Tatverdächtigen vertreten darf, solange dies strengen Bedingungen genügt. Ob man seine Argumente dafür überzeugend findet, sollte man selbst prüfen. Dankenswert ist jedenfalls Trapps minutiöse Auflistung der bisher bekannten Argumente gegen die Folter in der Strafverfolgung -- und der Versuch ihrer Widerlegung. Denn ob man Gewaltanwendung nun für zu rechtfertigen hält oder nicht, kennen sollte man die Argumente schon.

W. V. O. Quine und seine 3 Vornamen


Ich habe mich häufiger gefragt, wie eigentlich Quines Name korrekterweise anzugeben ist. Das W. steht für "Willard", das wollen wir mal als geläufigen Vornamen durchgehen lassen. Aber V. und O. stehen bekanntermaßen für "Van" und "Orman". Sind das zwei weitere Vornamen? Oder ist "van Orman" auch ein Nachname, mit niederländischem "van" -Präfix eben? Dagegen scheint aber zu sprechen, dass häufig auf Buchtitelseiten von Quine sein Name "W. V. Quine" lautet. Das spricht doch für einen dritten Vornamen, der einfach weggelassen werden kann?

Auf die Idee, dass "Van" auch ein Vorname sein könnte, brachte mich "Van" Morrison. Aber kürzlich kam ich auf die Idee, dessen Namen in der Wikipedia nachzusehen: eigentlich heißt Van the Man "George Ivan", kann man sich also erklären, wie er selbst auf Van kommt. Das dürfte nicht als Beleg für einen Vornamen "Van" taugen.
Nun stieß ich in anderem Zusammenhang auf die Webseiten, die von Quines Sohn -- jaja, der heißt auch Quine, und zwar Douglas Boynton Quine, gepflegt werden. Douglas ist der Sohn von Willard ... Quine und Marjorie geb. Boynton, wie man einem Stammbaum auf der Seite entnehmen kann, und da sind dann auch Quines Vorfahren höchstselbst, nämlich Cloyd Quine und Harriet "Van Orman". Daraus folgt wohl, dass das "V. O." in Quines Namen einfach der Nachname seiner Mutter ist und als zusammenhängend betrachtet werden muss. Und, möglicherweise in deutscher Schreibung, vielleicht Willard van Orman Quine lauten würde. Andererseits ist das "Van Orman" wohl so etwas wie ein Patenname, das heißt: kein Nachname, sondern eher ein zweiter Vorname (diese Praxis gibt es im Deutschen nicht). Das würde erklären, warum er nur mit V. abgekürzt und großgeschrieben werden kann: so verstehe ich nämlich schließlich und endlich die Initialen W. V. Quine als W(illard) V(an Orman) Quine. Alles klar?

Analytische Dekonstruktion? Dekonstruktive Analyse?

Peter Bornedal ist bisher, bis auf ein paar Aufsätzen zu Nietzsche und seiner Diss Speech and System, nicht weiter aufgefallen. Nun legt er ein Buch vor, das sich den Beginnings of Theory zuwendet, Untertitel: Deconstruction broken logik in Grice, Habermas, and Stuart Mill (Lanham : University of America Press, 2006). Aus dem Klappentext:
Two of the essays discuss the works of Paul Grice and Jürgen Habermas and their theories on language and communication. In these essays, the author demonstrates that despite the attempts of Grice and Habermas to give ontological foundations for inherent communicative rationality, their endeavors are unsuccessful. The third essay discusses John Stuart Mill's utilitarianism and argues that Mill's attempts to decide what is in principle good remain futile and incomplete. Ultimately, Bornedal argues that we cannot give metaphysical reasons for rationality or the good life. We can only decide to pursue these ideals, but there is nothing beyond the decision that makes the pursuit necessary or inherent. According to this position, Deconstruction becomes a kind of Pragmatism; or, as the author states, by way of paradox, "Analytic Deconstruction gives Pragmatism a scientific foundation."
Bin mir nicht sicher, ob das nun sympathisch klingt oder nicht: Einerseits ist es schön, wenn Dekonstruktion mehr ist als ein lustig-lustvolles Spiel der rhetorischen Analyse, andererseits kommt dabei anscheinend nichts heraus, was die analysierten Philosophen nicht auch schon gewusst hätten. -- Trotzdem finde ich den Versuch, Dekonstruktion mit den Mitteln der analytischen Philosophie zu betreiben, interessant genug.

26 September 2006

20.000 Seiten eines eigenen Philosophie-Systems

Schon mal was von Hans Pochmann gehört oder gelesen? Das ist ein österreichischer (?) Diplom-Psychologe, der sich selbst auch Philosoph nennt, und nun ein "Pochmann-Lexikon" vorgelegt hat, im Selbstverlag. Untertitel: "Lexikon und System der wesentlichen Begriffe des philosophisch-wissenschaftlichen Gesamtwerks von Hans Pochmann - etwa 200 Bände mit etwa 20.000 Seiten". War es nicht Marx, der feststellte, dass Quantität irgendwann in Qualität umschlägt? Er muss sich geirrt haben; Pochmann liefert den Beweis.
Beim genannten Umfang ist man natürlich froh, wenn es eine Abkürzung gibt (und man die Absicht gehabt haben sollte, das Werk Pochmanns zu studieren). Das Lexikon ist nur 52 Seiten stark, also knappe 2,5 Promille des Gesamtwerks. Es herrscht ein etwas wirres Gliederungsprinzip: So erfolgen Querverweise auf Begriffe, geordnet ist das ganze aber nach Artikelnummern.

Kleines Beispiel für die Argumentation. Pochmann ist Anhänger des "Hylozoismus", der Weltanschauung, dass
nichtzellige Naturgebilde als substantielle, ganzheitliche, manches erlebende (psychische), lebende, Ziele anstrebende und erwirkende Wesen angesehen werden, die je eigenen Sinn haben.
Zu Anhängern dieser These zählt er auch Diderot, Bruno, Goethe, Nietzsche, Klages. Das Nietzsche-Zitat als Beleg zeigt aber, dass hier ein experimenteller Gedanke Nietzsches a) für dessen Meinung ausgegeben und b) leicht missverstanden worden ist.
Und gibt's Argumente? Ja, gleich 4:
1. Wenn alle kleinsten Teilchen "völlig leblos und sinnlos wären, könnte ihre noch so komplizierte Zusammensetzung kein lebend-erlebendes, eigenen Sinn habendes Lebewesen ergeben".
2. Die Entstehung des Lebens auf der Erde lässt sich "nur-physikalisch nicht erklären, hylozoistisch lebt bereits aller Stoff des Weltalls und auch die kleinsten Substanzteilchen vor Entstehung der Zellen".
3. "Es wäre völlig uneinsichtig, wie aus einem Gehirn als einem Haufen lebloser, sinnloser Atome psychische Leistungen hervorgehen könnten".
4. "Die Ordnungen der Galaxien wie der Atome und Kristalle blieben unerklärbar".

Ehrlich: alle 4 Argumente sind Mist, und außerdem sind 1 bis 3 dasselbe Argument: den Übergang vom Unbelebten zum Belebten kann Pochmann so nicht verstehen. Aber wie ein Lebewesen entstehen soll, wenn man haufenweise Teilchen mit eigenen Leben und Sinn zusammensetzt, ist mir auch schleierhaft.
Dass Pochmann für alles ein völlig eigenes System hat, braucht wohl nicht gesagt zu werden. Es ist der Mühe nicht wert, sich da reinzudenken, auch wenn man ein Freund von Systemen ist (was ich nicht bin). Immerhin: was für eine immense Arbeitsleistung, allein 20.000 Seiten zu verfassen!

Ich frage mich, warum mich die verqueren Gedanken anderer manchmal mehr interessieren als die geraden? Ich vermute, es ist eine Art Faszination am intellektuellen Varieté, das ja nicht nur Akrobatik und Zauberkunst ausstellt, sondern auch zur Besichtigung des Abnormen einlädt.

25 September 2006

Der Wiener Kreis neu dokumentiert

Bisher musste man, wollte man sich mit der Philosophie des Wiener Kreises beschäftigen, die Originale zur Hand nehmen -- oder ein schmales Suhrkamp-Bändchen von Otto Neurath, das aber auch die 'Gründungsurkunde' Wissenschaftliche Weltauffassung - Der Wiener Kreis (hier pdf) (1929) enthielt. (Oder, wenn ich mich recht erinnere, einen nicht mehr lieferbaren Sammelband, den Hubert Schleichert herausgegeben hatte.)
Jetzt legt der Meiner-Verlag eine etwas großzügigere Dokumentation vor, die außerdem mit gut 100 Seiten Einführung und Bibliographie versehen ist. Michael Stöltzner und Thomas Uebel haben sie herausgegeben, und leider will der Verlag 78,- Euro für den gut 700 Seiten starken leinengebundenen Band haben. Ansonsten ist es ein wunderbares Büchlein, das neben den berühmten Aufsätzen auch weniger bekanntes bietet -- und stets mit den Originalseitenangaben der Erstveröffentlichung. Ganze Debatten lassen sich so nachverfolgen. Die Herausgeber haben dankenswerterweise das eine oder andere kommentiert.

24 September 2006

Deutsche Philosophie nach 1945 aus französischer Perspektive

Gérard Raulet: La philosophie allemande depuis 1945 (Paris : Colin, 2006). Auf dem Cover sind Habermas (ach was!), ein gruseliges Bild von Gadamer, Jaspers, Heidegger, und Sloterdijk, schlank und jung. Drinnen findet man aber auch, und unter anderen: Marcuse, Frankfurter Schule, Honneth, Waldenfels, Bubner, Bloch, Bohrer, Tugendhat, Spaemann, Lübbe, Peter Bürger, Manfred Riedel, Hans Jonas, Schulz, Theunissen, Blumenberg, Henrich und Marquard. Das ist doch eine Mischung! Und wieder einmal der von mir geschätzte Blick von außen.

23 September 2006

Kitcher und Nordhofen über eine Ethik mit und ohne Gott

Philip Kitcher schrieb in der ZEIT Nr. 38 vom 14.9. über eine "Ethik ohne Gott". Neu war für mich sein Ansatz: Kitcher skizziert die (mögliche) Entstehungsgeschichte von Ethik und zeigt sie dabei als eine Funktion menschlicher Gesellschaft, die ihre Entstehung und Entwicklung überhaupt ermöglicht. Dies geschieht im Vergleich mit dem Verhalten von Schimpansen in ihren Gemeinschaften. Dort kann man empathisches, d.i. einfühlendes und damit altruistisches Verhalten beobachten, aber auch, wie es oft in Konflikt gerät mit den eigenen Wünschen.
Menschlich im eigentlichen Sinne wurden wir erst, als wir Wege fanden, sozial unverträgliches Verhalten zu verhindern und altruistische Fähigkeiten zu verstärken,
schreibt Kitcher. Diese Errungenschaft sei an die Verwendung von Sprache geknüpft; Regeln müssen formuliert und mit Verhalten verglichen werden. Die Regelsysteme sind dann einem Prozess der Entwicklung ausgesetzt, der wie eine Evolution beschrieben werden kann: sie müssen sich bewähren in unterschiedlichen Umwelten; manche Regeln werden aufgegeben, andere kommen hinzu. Der Blick auf die Geschichte der kodifizierten Moral zeigt, wie unterschiedliche Gesellschaften sich unterschiedlichen Regeln unterwarfen. Kitchers Schlussfolgerung:
Dieser Blick auf die historischen Wurzeln unserer ethischen Begriffe mag für die Zukunft hilfreich sein. In Debatten über ethische Fragen kann man sich nicht darauf beschränken, Dogmen konkurrierender Traditionen auszutauschen oder unauflösliche Meinungsverschiedenheiten einfach hinzunehmen.
Kitcher erblickt hier also eine Möglichkeit, mit den Meinungsverschiedenheiten umzugehen. Das Bewusstsein davon, wie die moralischen Regelsysteme gewachsen sind, und vor allem davon, dass sie Antworten auf frühere Fragen enthalten, die nicht unbedingt dazu taugen, zukünftige moralische Probleme anzugehen, schärft den Sinn für ihre Grenzen.

Abschließend geht Kitcher auf die "unauflöslichen Meinungsverschiedenheiten" ein, die im Konflikt mit denjenigen entstehen mögen, die sich nicht der Relativität und Gewachsenheit ihrer Moral bewusst sind, z.B. religiös orientierten Gesellschaften. Entweder gelingt es, diesen den historischen, relativierenden Blick zu schärfen, oder man ist auf das vorethische, allein empathische Verhalten der Schimpansen zurückgeworfen (überspitzt gesagt).

Der Titel "Ethik ohne Gott" ist von der ZEIT deutlich polemisch gewählt, denn die religiöse Begründung von Moral spielt in Kitchers Überlegungen nur eine kleine Rolle. Trotzdem gibt sie den Kern ab für die "Replik", die Eckhard Nordhofen eine Woche später an gleicher Stelle in der ZEIT (Nr. 39) veröffentlicht, Titel: "Vom Nutzen und Nachteil des Glaubens". Man muss Nordhofens Beitrag mehrmals lesen, um seinen Punkt mitzubekommen, weil er so sehr an Kitchers Überlegungen vorbeigeht. Nordhofen stellt im Grunde fest, dass das religiöse Fundament von Moral für gläubige Menschen von Vorteil ist, weil es ihnen hilft, sich an die Regeln zu halten; sie haben, sozusagen, einen guten Grund, moralisch zu handeln. Diese These ist, finde ich, weder besonders strittig noch besonders wichtig, denn sie trägt nicht dazu bei, zukünftige moralische Fragen zu lösen: weder kann man Leuten, die nicht religiös sind, mit dieser Überlegung dazu bringen, religiös zu werden, noch kann man damit die moralischen Konflikte mit Gruppen, die anders religiös sind als man selbst, wirkungsvoll angehen. Im Untertitel heißt es bei Nordhofen: "Werte sind mehr als Spielregeln. Doch wenn Menschen sie eigenmächtig für gottgewollt erklären, taugen sie nicht viel". Jaja, möchte man sagen. Na und?

Also: Lieber nur Kitchers Aufsatz lesen, das bringt mehr!

13 September 2006

Richtig erziehen mit Bild?

Die Bildzeitung, sah ich neulich im Vorübergehen auf der 1. Seite, startet eine neue Serie: "So erziehen Sie richtig". Und wen sucht sie als Experten aus? "Deutschlands strengsten Lehrer". Ich lasse mal die Zweifel beiseite, wie man feststellen könnte, wer am strengsten ist, und komme gleich zur beunruhigenden impliziten Prämisse:
Der beste Lehrer ist derjenige, der am strengsten ist.
Warum sollte das so sein? Und was bedeutet Strenge überhaupt? Sätze wie "Streng aber gerecht" zeigen jedenfalls, dass z.B. Gerechtigkeit nicht per se Bestandteil des Konzepts Strenge ist. Für mich steht "streng" vor allem für eine bestimmte Art des Reagierens. Wenn es eine positive Seite hat, ist "konsequent" sicher das bessere Wort dafür; es macht deutlich, dass es beim Erziehen nicht 'harter' = strenger Reaktionen bedürfte, sondern überhaupt erst einmal Regeln, über die das Kind Bescheid weiß, und Reaktionen, die sich dann aus dem Verhalten des Kindes gegenüber den Regeln folgerichtig (=konsequent) ergeben.
Davon abgesehen sagt der Begriff natürlich noch gar nichts über die Fähigkeit eines Lehrers aus, Inhalte zu vermitteln und für sie zu begeistern. Er reduziert stattdessen das Tun des Lehrers auf die Unterrichtsdisziplin. Wie kann das Vorbild für Eltern sein?
Antwort: Bild macht als Hauptproblem für Eltern die ungezogene Jugend aus und vermutet, Eltern wollten am liebsten Antworten auf die Frage, wie sie Disziplin in die Rasselbande kriegen. Welche Inhalte und Werte auf welche Weise Kindern vermittelt werden sollten, lässt das vermuten, beschäftigt die der Bildzeitung bekannten deutschen Eltern weniger. Auch nicht gerade beruhigend, finde ich...

11 September 2006

Französisch-amerikanischer Dialog

Vielleicht gab es das öfter, aber ich war bass erstaunt über den 1971 erschienenen Band Language and human nature : a french-american philosopher's dialogue, hg. von Paul Kurtz. Er enthält nämlich die Beiträge einer Tagung, die 1968 in New York stattfand, und wo man z.B. Chisholm und Lefebvre aufeinander antworten lesen kann. Arthur Danto trägt Gedanken über "complex events" vor, die von Gilbert Varet und Edouard Morot-Sir aufgenommen werden; Derrida fordert Richard Popkin, Marvin Farber, Peter Caws und Wesley Piersol zu Antworten heraus. Gesponsert wurde das Treffen sowohl von amerikanischer wie französischer Seite, und auf letzterer mischte auch Paul Ricoeur mit. Ein historisches Dokument! Nur zum Teil die philosophische Prominenz der Zeit, aber vielleicht erhöht dies noch den Rang des Dokuments...

Und das Vorwort verweist darauf, dass es vor zwanzig Jahren (also 1950) schon einmal ein Treffen gegeben habe, was in einem Buch Philosophic thought in France and the United States, herausgegeben von Marvin Farber, seinen Niederschlag gefunden habe. Die UB Erlangen besitzt das Buch (zwei Bände) auf französisch, Titel L' activité philosophique contemporaine en France et aux États-Unis. (Paris 1950)

Für Freunde der Physiognomik

bedarf es strenger Regeln: So beginnt Johann Caspar Lavater, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hoffte, die Kunst, den Charakter aus dem Aussehen herauszulesen, auf eine festere Grundlage zu stellen, mit dem Hinweis, man möge seine Regeln "als Weise" brauchen und nicht "wie es nur Unweisen möglich ist". Bin gerade über eine kleine Broschüre von 1802 gestolpert, die in Leipzig bei Friedrich Gotthold Jacobäer erschien und heißt J. C. Lavaters vermischte physiognomische Regeln : ein Manuscript für Freunde.
"An Freunde" richtet Lavater bereits auf dem Titelblatt den zitierten Rat. Schon eine lustige Denkfigur, mit wenig Aussicht auf Erfolg: Lieber Dummkopf, handle klug! Und der Schaden kann groß sein für diejenigen, die sich mit unvorteilhaftem Aussehen herumschlagen müssen und von ihren eifrig physiognomierenden Mitmenschen dann misstrauisch betrachtet werden. Vielleicht eine ähnliche Problematik wie heute die Gendiagnose... Keine Stellung mehr für Leute, deren Aussehen ihnen einen schlechten Charakter bescheinigt usf.
Kleines Beispiel gefällig aus dem Kapitel über Nasen? (S. 32f)
§40
Nasen ohn' allen auffallenden Character, ohne Nuances, ohne Beugung, ohne Undulation, ohne einige angebliche Bezeichnung, können zwar bey vernüftigen, guten, allenfalls auch edlen Characteren gefunden werden, nie bey großen und vorzüglichen.
§41
Nasen, an beyden Seiten mit vielen Einschnitten, die bey der geringsten Bewegung sichtbarer werden, und bey der völligsten Ruhe nicht ganz unsichtbar sind, sind ein Zeichen eines schwerfälligen, drückenden, oft hypochondrischen, oft boshaftschalkhaften Sinnes.
§42
Nasen die sich leicht und alle Augenblicke rümpfen, sind so wenig an ächtguten Menschen, als Nasen, die sich kaum rümpfen könnten, wenn sie auch wollten, an erzbösen Menschen zu finden sein werden. -- Wenn die Nasen, die sich nicht nur leicht rümpfen, sondern schon eingebrabne Rümpfe haben, an guten Menschen gefunden werden, so sind diese gutgesinnte Menschen -- Halbnarren.
"Das Wenigste davon ist für alle; es sind größtentheils Geheimregeln", schrieb Lavater, zeitlebens mit der Veröffentlichung solcher Geheimregeln beschäftigt und sicher auch seinen Erfolg genießend.
Georg Christoph Lichtenberg, der Göttinger Physiker, Astronom (ein Mondkrater ist nach ihm benannt), Hypochonder und Philosoph, bekanntermaßen ein bucklichter Zwerg, wandte sich scharf gegen die physiognomischen Ideen des Schweizer Zeitgenossen. Lichtenberg tat dies mal polemisch, mal satirisch; für letzteres das schönste Beispiel ist sein "Fragment von Schwänzen", wo er vorgibt, die Schattenrisse von Schweineschwänzen und Studentenzöpfen physiognomisch zu deuten (hier online!).

07 September 2006

Das dickste Buch des Jahres

Gute Chancen hat, meine ich, der von Günter Abel herausgegebene Kongressband Kreativität. Der Wälzer aus dem Meiner-Verlag hat 1292 gezählte Seiten plus XIV für das Inhaltsverzeichnis. Man findet darin ein paar alte Bekannte mit ihren Lieblingsthemen, so z.B. Gottfried Seebaß wieder einmal zu einem Thema aus dem Bereich Willensfreiheit und Determinismus ("Determinismus und normative Kontrolle", S. 691ff), oder Jean Grondin über Hermeneutik ("Gadamers ungewisses Erbe", S. 205ff). Ein paar englischsprachige Aufsätze sind dabei, darunter "Perceptual objectivity" von Tyler Burge. Und ein paar, die richtig echt was mit Kreativität zu tun haben, wie Henrik Walters "Kann die Neurowissenschaft Kreativität erklären?" (S. 595ff) oder die Beiträge des Kolloquiums über Kreativität im interkulturellen Vergleich. Auffällig, dass kein Beitrag, nach den Titeln zu urteilen, sich mit negativer Kreativität, z.B. sogenannter "moralischer Kreativität" befasst. Vielleicht geschah das in den Sektionsbeiträgen. Die sind gesondert in zwei Bänden mit zusammen 1900 Seiten erschienen, die auch vom Meiner-Verlag vertrieben werden. Man möchte Abel als Herausgeber bitten, diesen von ihm sogenannten "kompakten Beitrag der Philosophie zur Frage der Kreativität" doch einmal noch etwas kompakter auf, sagen wir, 5 Zeilen zusammenzufassen.

Der Preis von 128,- € macht das Werk zu einem echten Bibliotheksbuch, aber immerhin werden ja die vielleicht 100 Autoren ihr Belegexemplar schon haben, da ist ja ein Viertel (?) der Auflage bereits verteilt :-). Schade, dass der Verlag kein Inhaltsverzeichnis auf seinen Webseiten anbietet, auch der Uni-Verlag der TU Berlin tut's nicht.

05 September 2006

Erbauliches vom Goldenen Strand

Es gibt in Nürnberg einen Verlag, der heißt The Golden Shore. In dem erscheinen auch deutsche Übersetzungen von, ich zitiere den Klappentext, "lehrreich unterhaltsamen Erzählungen und Geschichte aus dem alten Indien, von Suchern, spirituellen Meistern und großen Gestalten der Menschheitsgeschichte", die Sri Chinmoy dem Leser als "Schatz zeitloser und universeller Weisheiten, die wie Blumen im Garten unserer Seele erblühen und ihren Duft von Frieden, Licht und Seligkeit verströmen", schenkt.
Sri Chinmoy, hatte ich den hier nicht schon mal? Das Buch jedenfalls, zufällig aufgeblättert, bietet mir die folgende Geschichte voller universeller Weisheit (ich fasse sie mit teils eigenen Worten zusammen):
Barbar ist der erste Kaiser der Mogulen, ein Mann voller Weisheit. Es war "häufig in Kämpfe verwickelt, um gegen seine Feinde zu bestehen", aber weil er so eine tolle Armee hatte, blieb er stets Sieger. Eines Tages "wollte Babar ein Land erobern", das von einem König namens Ibrahim Lodi regiert wurde. Sein Sohn ist dagegen: Deren Armee ist viel größer! Babar aber bleibt dabei: Wir haben besser geschulte Soldaten, wird schon klappen. Tatsächlich siegen die Babar-Soldaten, und die Besiegten freuen sich, weil Babar ein viel besserer Herrscher ist als der vorherige König. Sie schenken dem Sohn einen riesigen Diamanten. Dann wird aber der Sohn krank, todkrank. Ein Heiliger kommt zu Babar und sagt: Wenn Du ein großes Opfer bringst, dann wird dein Sohn gesund werden. Was soll ich opfern? fragt der König. Der Heilige schlägt vor, dass Babar den riesigen Diamanten verschenken möge. Der sei doch echt kostbar. Babar darauf: Der gehört meinem Sohn, das wäre drum kein Opfer: a) weil er gar nicht mir gehört, b) weil er klein ist im Vergleich zum Königreich, dass ich besitze. Aber das wäre sowieso alles nicht wertvoll, "allein mein Leben ist wirklich wertvoll". Er sei bereit, sein Leben zu geben. Er bittet zu Allah, und der entspricht dem Wunsch: Nach drei Tagen wird der Sohn gesund, und Babar liegt krank darnieder und stirbt. Letzter Satz der Geschichte: "Dies ist die Liebe, die ein menschlicher Vater für seinen Sohn empfinden kann".
Hhm. Eine "spirituelle Geschichte", voller Weisheit und so?
Mir missfällt daran die Logik des Austauschs: Allah, ich geb dir mein Leben, gib du mir das des Sohnes. (Das ist dann, recht betrachtet, auch kein Opfer, sondern eben ein Tausch, aber das nur am Rande.) Seltsamer Gott auch, der sich darauf einlässt. -- Mir missfällt auch, dass der kriegstreibende König hier als weise hingestellt wird: das ist schließlich alles, was man von ihm erfährt: Er war voller Weisheit. Eines Tages hatte er Lust, sein Nachbarland zu erorbern. -- Am meisten missfällt mir, dass hier der Tod das Maß der Liebe abgibt. Das scheint mir am normalen Leben vorbeizugehen und daher als Weisheit für den Alltag völlig untauglich!

Medientheorie der Aufklärung

Georg Stanitzek und Hartmut Winkler haben ein Kuriosum ausgegraben: die Fragmente über den Ideenumlauf des Auklärers Josias Ludwig Gosch, 1789 in Kopenhagen erschienen. Gosch ist so unbekannt, dass von ihm weder Wikipedia noch der aktuelle Brockhaus etwas wissen. Das Vorwort immerhin erläutert ihn als "schillernde Figur", und die nun im neu gesetzten Nachdruck vorliegenden Fragmente seien "in mehrerer Hinsicht von großem Interesse": als Quelle für das Medienverständnis der Aufklärung ebenso wie als ein neuentdeckter Klassiker mit durchaus modernen Ansätzen. Der Blick auf die Zirkulation der Ideen, für Gosch die Voraussetzung für ihre "ewige Dauer", ist in einer Zeit, die mehr den Ideen selbst zugewandt ist, jedenfalls etwas Originelles!

02 September 2006

Poggi über den jungen Heidegger

Was hat Heidegger eigentlich vor 1927, vor dem Erscheinen von Sein und Zeit, getrieben? Dass er von Jesuiten erzogen wurde, sich über Duns Scotus habilitierte und ein begnadeter Vortragender in Marburg war (Hannah Arendts Wort vom "Versteckten König" der Philosophen stammt ja aus den zwanziger Jahren), das weiß man so ungefähr. Nun gibt schon seit einiger Zeit die Gesamtausgabe im Klostermann-Verlag die Möglichkeit, die frühen Vorlesungen und damit die Entwicklung des Heideggerschen Denkens zu studieren. Für mich waren die Vorlesungen um 1922 ein Aha-Erlebnis, weil ich viel deutlicher sehen konnte, wieviel Heidegger bei Husserl gelernt hat. Sein und Zeit sieht ja mehr nach einer Absetzbewegung aus.
Jedenfalls erscheinen auch immer mehr Bücher mit dem "jungen Heidegger" im Titel. John van Buren schrieb schon 1995 über "The young Heidegger" (1912-1927), auch Jürgen Stolzenbergs Studie über den Neukantianismus' Natorps und Cohens im Vergleich mit dem frühen Heidegger, Ursprung und System, erschien in diesem Jahr. Nun legt Stefano Poggi La logica, la mistica, il nulla : una interpretatione del giovane Heidegger vor und schreitet dabei das Werk ab 1914, ab Heideggers Dissertation über Die Lehre vom Urteil im Psychologismus, bis 1922 ab. Ich bin kein Heidegger-Kenner: mich macht hier das Wort "Mystik" im Titel neugierig.